Süddeutsche Zeitung

Stilkritik: Die Wachsfigur:Schwache Gefühle

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Echt langweilig: Die Wachsfigur gehört in die Zeit vor der digitalen Bildbearbeitung. Die Flut neuer Bilder hat ihr das Genick gebrochen. Und Madame Tussauds ist einfach zu langsam.

Claudia Fromme

Im Geschäft mit dem schönen Schein ist es oft die hässliche Kehrseite, die den Absatz fördert. Zuletzt hatte eine Wachsfigur einen Besucheransturm ausgelöst, als Adolf Hitler bei Madame Tussauds in Berlin einzog - und nicht, als das Double von Heidi Klum enthüllt wurde, wie in dieser Woche geschehen. Erfreulicherweise riss schon der zweite Besucher Hitler den Kopf ab.

Starke Gefühle lösen die Wachskameraden sonst nicht mehr aus. Gestern wurde Heidi Klum in Berlin installiert, heute Michelle Obama in Washington - und morgen fällt in China ein Sack Reis um. Zwar versuchen PR-Agenturen weiter rührend, für maximale Aufregung zu sorgen, wenn ein Doppelgänger enthüllt wird, aber die Fotografen kommen auch nur, wenn sich das Original neben seine Kopie stellt.

Die Wachsfigur gehört in die Zeit vor der digitalen Bildbearbeitung. Ihr Erfolgsrezept war ja nicht, dass sie einem Prominenten ähnlich sah, sondern dass man sich für ein Foto daneben stellen konnte, um dieses später der Oma zu zeigen. Das geht heute bequemer am PC, und die Person nebendran ist dann nicht schlecht kopiert sondern gut aus dem Netz geklaut.

Die Bilderflut hat der Wachsfigur dabei doppelt das Genick gebrochen, denn um überhaupt noch wahrgenommen zu werden, müssen VIPs heute ja ständig neue Bilder verbreiten. Sah Marilyn Monroe eigentlich immer gleich aus, ändert Scarlett Johansson täglich ihre Frisur.

Die Kopisten bei Madame Tussauds gießen im Akkord, um die Visagen annähernd aktuell zu halten, doch sie eilen dem Trend hinterher. So ist es wie bei Ikarus, der immer höher hinaus wollte. Mit seinen wächsernen Flügeln kam er der Sonne zu nah - und stürzte ab.

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Quelle:
SZ vom 30.01.2010
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