Süddeutsche Zeitung

Stau und Psychologie:Nation der Sitzenbleiber

Lesezeit: 3 Min.

Gewohnheit siegt über Vernunft: Wenn Menschen mit dem Auto verreisen, hat das nicht immer rationale Gründe. Und wenn die Reise dann abrupt im Stau endet, heißt es: entspannen - oder vorher ein spezielles Training absolvieren.

Christina Berndt

Autofahren ist die große Freiheit. Wer nicht mehr sein Pferd vor dem Saloon anbinden kann, der findet wenigstens im Blech auf vier Rädern jene individuelle Unabhängigkeit, die er im täglichen Leben so vermisst. Schließlich kann ein Autofahrer völlig losgelöst entscheiden, wann er losfährt, wie häufig er Pausen macht, welche Musik er in welcher Lautstärke hört, wo genau er ankommt und vor allem auch, mit wem er fährt. Die Freiheit des Autofahrers ist grenzenlos - bis er im Stau steht.

Die Sache mit dem Stau ist ein merkwürdiges psychologisches Phänomen. Bis eben hatte der Reisende sie fast vergessen. Natürlich weiß jeder, dass es Staus gibt und zur Urlaubszeit noch dazu besonders viele. Aber wie bei einer bösen Krankheit denkt der deutsche Autofahrer, dass der Stau zunächst einmal nur andere trifft.

"Verdrängung spielt eine große Rolle, wenn sich Menschen entscheiden, mit dem Auto in Urlaub zu fahren", sagt der Verkehrspsychologe Peter Klepzig, der in seiner Berliner Praxis Menschen mit allen möglichen Problemen im Straßenverkehr zur Seite steht. "Man hofft immer, dass es einen selbst nicht trifft."

Wenn die Menschen dann doch am Ende der Blechschlange ankommen, sind sie meist komplett unvorbereitet. Sie haben zu wenig zu trinken dabei, der Rücken schreit nach Bewegung, weil die letzte Pause schon viel zu lange her ist, der plötzlich auftretende Drang nach Süßigkeiten ist mit nichts, was noch im Handschuhfach herumliegt, zu befriedigen, und die Kinder fangen an zu nörgeln, weil sie nichts zum Spielen haben. Die Stimmung im Kleinod Personenkraftwagen muss zwangsläufig binnen kürzester Zeit auf den Nullpunkt sinken.

Psychologisch betrachtet ist der Effekt nicht zu unterschätzen. Schließlich wird aus der großen Freiheit plötzlich die totale Fremdbestimmung. "Es handelt sich durchaus um ein starkes Frustrationserlebnis", sagt Bernhard Schlag, Verkehrspsychologe an der TU Dresden.

Schulung für das "Ohnmachtserlebnis"

Dies werde unter Zeitdruck umso schlimmer - etwa wenn eine Uhrzeit für die Schlüsselübergabe verabredet ist oder bald die letzte Fähre ablegt. Der Kölner Verkehrspsychologe Gerd Pfeiffer plädiert deshalb dafür, Autofahrer gezielt darin zu schulen, "sich mit dem Ohnmachtserlebnis Stau zu arrangieren".

Das oberste Gebot heißt Gelassenheit. Dabei kann vor allem eine Erkenntnis helfen: "Der Stau bin ja schließlich auch ich", wie Hardy Holte, Autor des Buches "Rasende Liebe" über Autofahrer und ihre Sehnsüchte, einmal betonte. Natürlich sei es verständlich, dass sich die Menschen ärgern, wenn sie nicht vorwärtskommen, ergänzt Peter Klepzig.

Schließlich möchten sie ihren Urlaub an Nordsee oder Adria verbringen und nicht auf der Autobahn. "Aber man sollte sich trotzdem in die Situation fügen", rät er. Wenn man etwas dabei hat, das ablenkt und beschäftigt, gelingt das am besten. "Wenn man dagegen nur wartet, dass es endlich weitergeht, wird es unerträglich." Pfeiffer empfiehlt, den Stau ganz pragmatisch in den Urlaub zu integrieren: "Legen Sie Ihre Lieblingsmusik oder ein schönes Hörbuch ein - dann kann auch die Zeit im Stau wertvolle Lebenszeit sein."

Dass der Mensch trotz aller negativen Erfahrungen im Stau nicht vom Autofahren lassen kann, hat Bernhard Schlag zufolge auch viel mit Gewohnheit zu tun. "Wir sind nun einmal hochgradig an das Auto als Fortbewegungsmittel habituiert", meint der Dresdner Psychologe.

Mitunter, so Schlag, gebe es gute Gründe für die Wahl des Kraftfahrzeugs - etwa wenn man mit kleinen Kindern verreist und viel Gepäck dabei hat. Aber häufig rationalisieren Menschen ihre Entscheidung für das Auto, obwohl diese völlig irrationale Gründe hat.

Dennoch verteidigt Schlag die Unflexibilität der meisten Autoliebhaber. "Gewohnheiten sind ja an sich keine schlechte Sache", meint er. Der Mensch brauche und liebe Gewohnheiten, weil sie im Alltag sehr nützlich seien. "Die Ökonomen behaupten gern, gewohnheitsmäßiges Handeln sei weniger günstig als überlegtes Verhalten, doch das Gegenteil ist der Fall", sagt Schlag. "Gewohnheiten sparen Zeit, Ressourcen und Planungsaufwand - dadurch lässt sich der Alltag sehr viel leichter bewältigen." Deshalb geben Menschen ihre Gebräuche erst auf, wenn es wirklich nicht mehr anders geht.

Für den Umstieg auf ein anderes Verkehrsmittel aber erfolgt die Bestrafung in Form des großen Urlauberstaus viel zu selten. "Das passiert ja meist nur ein-, zweimal im Jahr", sagt Bernhard Schlag. "Für einen anhaltenden Lerneffekt ist das zu wenig, er verpufft - zumal wir mit der Autofahrt in den Urlaub ja auch viele positive Erlebnisse verbinden."

Schicksalsgemeinschaft der Leidenden

Bei Berufspendlern sei das anders. Wer jeden Tag wieder im Massenverkehr auf Minimaltempo heruntergezwungen wird, der denkt irgendwann doch an einen Wechsel zu den öffentlichen Verkehrsmitteln oder an andere Arbeitszeiten, sofern dies möglich ist.

Am Ende trösten sich die Staufahrer meist gegenseitig. "Im Stau kommen Aggressionen gegen andere eher selten vor", meint der Psychologe Peter Klepzig. Auch Bernhard Schlag findet, dass es "meist sehr zivilisiert zugeht". Das hat auch damit zu tun, dass von jenen, die man im Stau trifft, keiner an ihm schuld ist.

In der Stauschlange bilden die Wartenden eher eine Schicksalsgemeinschaft von Leidenden. "Das hilft sehr", sagt Klepzig. Mitunter bilden sich Allianzen bis hin zu kleinen Happenings. Klepzig selbst hat vor kurzem einen Kollegen im Stau getroffen, den er lange nicht gesehen hatte. "Das war richtig nett", erzählt er, "endlich mal wieder in Ruhe zu plaudern."

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SZ vom 30.07.2011
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