Süddeutsche Zeitung

Buchpreisträger:Der Mann, der Saša Stanišić vor der Abschiebung bewahrte

"Ich habe gedacht: Ich muss ihm jetzt helfen": Werner Fontius hat in den 90er Jahren den Fall des Schriftstellers in der Ausländerbehörde betreut. Nun trafen sie sich wieder.

Interview von Mareen Linnartz

Werner Fontius, 62, war bis zu seiner Rente 28 Jahre Sachbearbeiter in der Ausländerbehörde in Heidelberg und betreute in den 90er-Jahren auch den späteren Schriftsteller und Gewinner des Deutschen Buchpreises, Saša Stanišić, der mit seiner Familie aus Bosnien geflohen war. "Ich wurde 1998 nicht abgeschoben, weil der Sachbearbeiter in der Ausländerbehörde mehr als nur Dienst nach Vorschrift tat", hat Stanišić in seinem Bestseller "Herkunft" über Fontius geschrieben. In Interviews betont Stanišić, ohne seinen damaligen Sachbearbeiter wäre seine Karriere nicht möglich gewesen. Bei einer Lesung in Heidelberg haben sie sich kürzlich erstmals wiedergesehen.

SZ: Herr Fontius, hatten Sie all die Jahre noch Kontakt zu Saša Stanišić?

Werner Fontius: Erst seit 2016 wieder. Da hatte Saša 111 Flaschen Riesling geschenkt bekommen in Verbindung mit einem Preis, und da er kein großer Weintrinker ist, wollte er das Zeug verschenken und mailte mir. Ich konnte nicht annehmen, ich war ja noch Beamter.

Aber Sie wussten sofort, wer er ist?

Ja klar, ich habe seit Jahren in der Zeitung seine Karriere verfolgt. Er hat auch mal in meinem Wohnort gelesen, damals noch vor 20 Leuten in der Stadtbücherei, aber da war ich in Urlaub. Vor einem halben Jahr kam er wieder hierher, leider war die Veranstaltung schon ausverkauft.

Jetzt hat es geklappt.

Ich habe ihm gemailt: Ich komme! Er hat geantwortet: Super! Mit fünf Ausrufezeichen. Er war wirklich immer ein special Fall.

Wie meinen Sie das?

Ich kam 1992 ins Ausländeramt als Sachbearbeiter, Buchstabe S, er im selben Jahr als Flüchtling, 14 Jahre alt. In meinen 28 Jahren in dem Amt habe ich an die 15 000 Fälle bearbeitet. Aber an ihn und seine Family kann ich mich gut erinnern. Ich war beeindruckt von den Eltern. Die Mutter hatte schnell gute Deutschkenntnisse, er sowieso, die Eltern haben gearbeitet, die Familie war eine Einheit. Und dann war ihre Geschichte auch ein wenig anders. Darf ich ausholen?

Gerne.

91/92 war ja der Kroatienkrieg, wir hatten viele Fälle von Kroaten, Slowenen, Serben, die geflüchtet sind, dazu kamen 1992 die Bosnier. 300 000. Deutschland war zu diesem Zeitpunkt das einzige Land, das eine Rückkehrpflicht eingeführt hatte: Sie waren nur kurzzeitig aus humanitären Gründen geduldete Flüchtlinge. Sie sollten zurück in ihre Herkunftsländer. Aus diesem Status kam niemand raus.

Auch die Familie Stanišić nicht.

Genau. Da war eigentlich nichts zu machen. 1998 haben dann die Amerikaner gesagt, sie nehmen ein Kontingent dieser Flüchtlinge auf, darunter auch Sašas Eltern. Bis zu ihrer Ausreise bekamen sie eine Duldung, die monatsweise verlängert wurde.

Das heißt, Sie haben sie viel gesehen.

Die waren oft da. Aber nun gab es ein Problem. Der Sohn hätte mitgehen können nach Amerika. Aber er wollte nicht. Er wollte Schriftsteller werden, im amerikanischen Niemandsland hat er keine Zukunft gesehen. Die Romane, die er jetzt schreibt, die sind ja sehr europabezogen. Und seine Eltern waren damit einverstanden.

Erstaunlich für einen 19-Jährigen.

Das ist kein Handwerker. Er hat seine Zukunft hier als Schriftsteller gesehen.

Sie haben dann nicht "Dienst nach Vorschrift" gemacht. Was meint er damit?

Ich habe überlegt und in Unterlagen geforstet, das war ja noch vor dem Internet, und habe dann in den Tiefen der Verordnungen etwas gefunden: Er muss sich immatrikulieren und Student werden. Darin habe ich die einzige Chance gesehen. Es gab keinen Rechtsanspruch darauf, dass, wer immatrikuliert ist, bleiben darf, verstehen Sie mich nicht falsch. Es war einfach ein Versuch.

Wie hätte denn ein Dienst nach Vorschrift ausgesehen?

Dann hätte ich einfach gesagt: Das ist mir egal, ob du nun Student werden willst oder nicht, du gehst jetzt nach Bosnien oder Amerika oder wirst abgeschoben, fertig. Oder: Du musst nach Bosnien ausreisen und bei der deutschen Botschaft ein Studentenvisum beantragen. Das kann dauern. Ich habe mir gesagt: Wir müssen das abkürzen. Also versuche, dich jetzt hier einzuschreiben, damit ich das anerkennen kann.

Saša Stanišić erwähnt Sie in Interviews sehr oft: "Ich habe ihm zu verdanken, dass ich überhaupt Lesungen machen darf."

Das freut mich. Der Saša, das war ein Typ. Auch ein bisschen ein Muttersöhnchen. Ich habe mir einfach gedacht: Das ist wirklich sein Traum, Romane zu schreiben. Dem muss ich jetzt helfen. Also soweit es im rechtlichen Rahmen geht, natürlich.

Sind Sie auf Twitter?

Nein. Ich bin noch rustikal unterwegs, ich maile nur.

Stanišić hat auf Twitter etwas Lustiges über Sie geschrieben. Seiner Erfahrung nach wären Sachbearbeiter mit Diddl-Mäusen oft besonders streng gewesen. Sie aber hätten keine Diddl-Mäuse in Ihrem Büro gehabt.

Stimmt, Diddl-Mäuse waren damals in. Ich hatte nur ein paar Bilder von meinen drei Kindern an der Wand. Wir hatten immer ein gutes Verhältnis, der Saša und ich. Kurz vor der Abreise in die USA kam seine Mutter zu mir. Sie hat geweint, soweit ich mich erinnern kann. Und mich gefragt, ob er auf mich zukommen könnte, wenn er Fragen hätte.

Aber das hat er dann gar nicht gemacht.

Nein, er ist schnell seinen Weg gegangen.

Nun haben Sie sich nach mehr als 20 Jahren bei einer Lesung wiedergesehen. Waren Sie aufgeregt?

Eigentlich nicht. Ich dachte, ich gehe vor der Veranstaltung zu ihm hin und dann setze ich mich wieder. Da war ja großer Trubel, lauter Menschen um ihn herum, auch ehemalige Lehrer.

Es kam dann ein wenig anders.

Er hat die Stelle vorgelesen, in der ich auftauche, und dann gesagt: "Heute Abend ist dieser Mann hier." Er hat mich dann auf die Bühne geholt, nicht geplant, ganz spontan. Und dann hat er mich umarmt und geweint. Also ich hatte auch eine Träne im Knopfloch. Er hat sich überhaupt nicht verändert, der Saša. Der ist weder abgespaced noch sonst irgendwas. Einfach ein lieber Kerl.

Aber auf Lesungen wird er jetzt gefeiert wie ein Popstar.

Dem seine Karriere ist noch nicht beendet, sage ich. Also, wie der jetzt durchstartet, und er ist ja erst 41, da kann noch einiges kommen.

Haben Sie seine Bücher gelesen?

"Herkunft". Die anderen habe ich mir jetzt alle gekauft.

Und wann sehen Sie sich wieder?

Wir sind beide E-Gitarristen. Wenn er das nächste Mal in Heidelberg ist, das haben wir ausgemacht, klampfen wir zusammen.

Dann könnte er Ihnen ja jetzt auch einen Riesling schenken.

Stimmt, als Rentner könnte ich es annehmen. Aber das ist echt nicht notwendig.

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Quelle:
SZ vom 22.01.2020/marli
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