Süddeutsche Zeitung

Sport:Alles Theater

Lesezeit: 8 min

Spieler, die sich am Boden wälzen, Zeit schinden und auf unfaire Weise protestieren erleben wir im Fußball viel häufiger als in anderen Sportarten. Die großen Stars machen es vor. Eine Abrechnung.

Von Philipp Crone

Wer sich ein Bundesligaspiel im Fußball ansieht, wird permanent betrogen und getäuscht. Nehmen wir den zweiten Spieltag, vier schnelle Beispiele. Augsburg gegen Gladbach, erste Halbzeit, Zweikampf im Mittelfeld, der Augsburger Daniel Baier bleibt nach einem Kopfballduell regungslos auf dem Rücken liegen. Gladbach greift an, der Ball geht ins Aus. In dem Moment setzt Baier sich auf, spielt weiter, als sei nichts gewesen. In der Zeitlupe sieht man: Er wurde leicht von hinten gerempelt. Baier fehlt nichts, er wollte den Angriff der Gladbacher unterbinden, indem er dem Schiedsrichter vortäuscht, verletzt zu sein. Baier ist Kapitän des FC Augsburg. Rüber zu Wolfsburg gegen Schalke. Der Wolfsburger Maximilian Arnold wird gefoult, wälzt sich vor Schmerzen, exakt 25 Sekunden später steht er wieder, läuft gemütlich weiter. Sechs Minuten später wird Schalkes Mark Uth gefoult; er liegt, das Gesicht vor Schmerz verzerrt, steht auf, sprintet. Nach der Pause sackt der Schalker Guido Burgstaller nach einem Zweikampf zusammen, springt aber sofort wieder auf, als er keinen Pfiff bekommt.

Das Vortäuschen akuter Schmerzen hat Methode, und wann immer eine Zeitlupe eingespielt wird, denkt sich der Zuschauer: Das soll wehtun? Oder denkt er das überhaupt noch? Hat er sich vielleicht längst damit abgefunden, dass Fußball in der Bundesliga gar kein richtiger Sport mehr ist, sondern eher eine Art Show-Act wie das Wrestling?

Gespielte Schmerzen sind eine Art des Betrugs, des Betrugs am Grundgedanken des fairen sportlichen Miteinanders. Die weiteren Disziplinen, die der Profifußball perfektioniert hat, lauten Zeitspiel, Beschimpfung und Lüge. Ein Drama in drei Akten und die Frage: Was macht das eigentlich mit jungen Kickern, deren Helden gar keine Helden sind und Vorbilder schon gleich gar nicht, weil die Profis einem beibringen, dass es durchaus lohnenswert ist, sich nicht an die Regeln zu halten.

Erster Akt: Die Schmerzen

Die Weltmeisterschaft in Russland war der vorläufige Tiefpunkt der Entwicklung. Das klassische Mittelfeldfoul wurde geradezu zelebriert, etwa im Viertelfinale, vorgeführt von Bentancur aus Uruguay und dem Franzosen Tolisso. Bentancur grätscht, Tolisso wälzt sich, hält sich den Knöchel, Schiedsrichter pfeift, Bentancur schimpft, hebt die Hand, das Zeichen für "War nichts". Zeitlupe: Bentancur tritt Tolisso mit voller Wucht, ans Schienbein. Schnitt. Bentancur noch immer sauer. Tolisso steht langsam auf, schmerzverzerrtes Gesicht, logisch, dann läuft er gemütlich ... und so weiter.

Der 66-jährige Sportarzt Wilhelm Widenmayer ist seit Jahrzehnten Mannschaftsarzt des TSV 1860 München und der Hockey-Nationalmannschaft. Widenmayer sagt: "Entweder du kannst gleich weiterspielen oder gar nicht." Widenmayer hat Tausende Kicker liegen sehen, nie geht es gleich wieder, sondern fast immer erst nach der Theatereinlage. Manchmal wälzen sich die Spieler auch. Doch der Mediziner ist überzeugt: "Kein Athlet, der starke Schmerzen hat, wälzt sich." Wenn es richtig wehtue, würde man sich so wenig wie möglich bewegen.

Bei den Schmerzeinlagen ist das Perfide, dass streng genommen niemand wissen kann, wie sehr etwas wehtut. Es ist nur so: Profifußballern tut offenbar immer alles total weh. Und fast immer nach zehn Sekunden nichts mehr. Natürlich gibt es auch schwere Verletzungen in diesem Sport, zuletzt bei Rafinha, Tolisso und Coman vom FC Bayern. Das ist Teil des Sports. Doch im Profifußball scheint es so zu sein, dass die Theatralik in keinem Verhältnis mehr steht zur tatsächlichen Dramatik.

Christian Mohr, 38, hohe Stirn, tiefe Stimme, war als Profi in der amerikanischen Football-Liga NFL bei den Seattle Seahawks und den Indianapolis Colts unter Vertrag. "Du hast in dem Sport einen Ehrenkodex", sagt er. "Wenn dich einer umnietet, stehst du schnell wieder auf, um zu zeigen: Ich bin stark, du wirfst mich nicht um." Wenn ein Fußballer umgenietet wird, bleibt er möglichst lange liegen.

Mohr trainiert heute Kampfsportler, darunter Weltmeister in Mixed Martial Arts. "Die Engländer sagen: Are you hurt or are you injured?" Tut's nur weh oder bist du verletzt? Dieses Gesetz gilt im Handball, Basketball, Hockey, Eishockey, Football. Die bestbezahlten Athleten der Welt sind hingegen oft einfach nur peinlich. Sagen Handballer, Basketballer, Hockeyspieler, Footballer. In diesen Sportarten gibt es im Übrigen eine Regel, um echte von gespielten Verletzungen zu unterscheiden: das Interchanging. Spieler können jederzeit ein- und ausgewechselt werden. Bei Verletzungen läuft das Spiel meist weiter, der Verletzte wird ersetzt.

Eine Unterform der Schmerzeinlage ist die Schwalbe. Dominik Klein, 34, Handballweltmeister von 2007 und bis zur vergangenen Saison Profi in Frankreich, sagt: "Wer auf dem Boden liegt, gilt im Handball als Memme. Und wenn einer schwalbt, sehen das die Gegenspieler, der bekommt im nächsten Angriff richtig einen ab." Schwalbe, den Begriff gibt es ohnehin nur im Fußball. Sagt Klein. Genauso wie Krämpfe, die einen in die Knie zwingen, vor allem dann, wenn man in der 91. Minute 1:0 führt. Auch die hat nur der Fußball im Angebot.

Zweiter Akt: Das Zeitspiel

Manchmal könnte man sich fast freuen, wenn ein Spieler wieder eine neue Methode gefunden hat, um das Spiel zu unterbrechen. Da gibt es die Kategorie Kapitänsbindenwechsel. Dass Spieler, deren Team in Führung liegt, sich bei jedem einzelnen Mitspieler verabschieden und rausschlurfen, ist üblich. Und wenn der Kapitän rausmuss, ist er auf einmal unfähig, seine Gummiband-Binde vom Arm zu ziehen - wäre sein Team in Rückstand, wären solche Mätzchen natürlich nicht nötig.

Neu war bei der WM, dass mittlerweile auch fast alle den Ball-zum-Balljungen-zurückwerfen-Trick draufhaben. Wer führt, wirft den ersten zugeworfenen Ball beim Einwurf zurück und verlangt einen zweiten. Das ist Spielwitz der unfairen Art. Und dann der völlig unbedrängt den Ball fangende Torwart, der sich danach auf den Boden fallen lässt - bringt satte fünf Sekunden, mit Stutzenhochziehen sogar neun. Beim Gruppenspiel Deutschland gegen Schweden benötigte der schwedische Linksverteidiger bei einem Einwurf zu Spielbeginn exakt 15 Sekunden, den Ball-Rückgabe-Trick nicht eingerechnet. Schweden spielte 90 Minuten auf Zeit. Genauer: Schweden wollte nicht Fußball spielen. Warum? Weil es möglich ist, damit erfolgreich zu sein. Oft genug erkämpft sich eine Mannschaft ein Unentschieden durch Spielverweigerung.

Beim Handball bekommt ein Spieler, der nach dem Pfiff für den Gegner den Ball nach zwei Sekunden noch nicht auf den Boden gelegt hat, sofort eine Zeitstrafe.

Wenn Jugendliche immer wieder erleben, was die Profis bei jedem Bundesligaspieltag und in der Champions League treiben: Wie stark färbt das ab?

SC Armin, München-Sendling, drei Trainingsplätze, ein Nachmittag im August. Die Zehnjährigen rennen dem Ball nach, sehr fokussiert, fasziniert, es gibt nicht einmal Torjubel. Fußball, dieser tolle Sport, in seiner schönsten, reinsten Form. Gleich daneben trainiert die U12, einige in Bayern-Trikots, der ein oder andere fährt sich durchs Haar, kleinere Torjubel-Gesten sind schon einstudiert. Und dann, noch eins weiter, die 16-Jährigen: Hier hat sich das Liegenbleiben nach Gegnerkontakt schon fest etabliert. Es läuft ein Trainingsspiel, der Schiedsrichter wird bei jedem zweiten Pfiff mit einem Kopfschütteln bedacht. Was würde wohl aus einem Zehnjährigen, wenn er nicht Neymar als Vorbild hätte, sondern einen dieser Rugby-Spieler, die nicht nur austeilen, sondern auch einstecken können? Er würde nicht lernen zu bescheißen, er würde lernen zu bestehen. Er würde lernen, dass man auch ohne Lügen gut durchs Leben kommt. Neymar, was für ein Lichtblick, wurde gerade in einem Länderspiel gegen die USA von seinem Gegenspieler nach einer Ich-bleib-jetzt-mal-liegen-Einlage einfach ignoriert. Noch besser: Der Amerikaner fragte den Schiedsrichter drei Mal: "Haben Sie die WM gesehen?" Bei der WM hatte Neymar es ein wenig übertrieben, unter anderem mit seiner spektakulären Mehrfachrolle nach einem angeblich fürchterlichen Foul im Spiel gegen Mexiko; der Brasilianer war danach zum weltweiten Gespött geworden. Der Weltstar als Poser, als Zielscheibe gehässiger Kommentare - auch nicht schön, wenn man bedenkt, dass der gleiche Neymar bei der WM in Brasilien 2014 so brutal gefoult worden war, dass er beim WM-Halbfinale gegen Deutschland ausfiel.

Neymar steht auch für das Dilemma der Supertechniker: Sie werden oft genug vom Gegner zielgerichtet kaputt getreten. Mittlerweile gibt es gut ausgebildete Zerstörer wie etwa den Spanier Sergio Ramos von Real Madrid, der in Perfektion, ohne bestraft zu werden, Stürmer zerbricht wie im Champions-League-Finale Mohamed Salah. Aber rechtfertigt diese Angst der Techniker vor den Aggressoren eine permanente Schmierenkomödie wie bei der Russland-WM? Darf Neymar schauspielen, um sich zu schützen?

Ein ganz ketzerischer Gedanke kann einem allerdings auch noch kommen, wenn wieder jemand in Großaufnahme rumliegt: Viele Spieler sind ja längst internationale Marken. Ob da am Ende einer der persönlichen Sponsoren-Betreuer eines Kickers vielleicht überhaupt nichts dagegen hat, wenn der Werbeträger lange im Bild ist?

Erschwerend kommt für faire Spieler mittlerweile hinzu, dass die Schiedsrichter ein Foul oft erst pfeifen, wenn der Spieler hinfällt. Stefan Kermas, Hockey-Bundestrainer, erinnert sich an eine Szene der Fußball-WM, als der Belgier Eden Hazard klar getroffen wurde, sich aber auf den Beinen hielt und dann den Ball verlor. Kein Pfiff. "Das kann es dann ja auch nicht sein", sagt Kermas.

Sehr erfrischend ist hingegen das Verhalten einer Spielerin des FC Barcelona. Direkt nach Neymars Verletzungstheater im Sommer ging diese Szene von 2016 noch mal viral, als Beweis dafür, wie man im Fußball standhaft und erfolgreich sein kann: Bárbara Latorre, so heißt die Heldin, führt den Ball übers halbe Feld. Nach einem Foul vor dem Strafraum bleibt sie eben nicht liegen, wie viele der männlichen Kollegen, sondern steht blitzschnell wieder auf, dribbelt weiter und schlenzt den Ball elegant ins Tor. Latorre ist der Anti-Neymar. So kann es auch gehen.

Dritter Akt: Beschimpfungen und Beschwerden

Ein Bundesligaspiel ist manchmal wie ein Bolzplatz-Déjà-vu. Man geht sich an die Gurgel, Stirn an Stirn, regelmäßig. Geradezu grotesk war die Rudelbildung beim WM-Spiel Kolumbien gegen England, als nach einer Strafstoß-Entscheidung die Kolumbianer zu fünft den Schiedsrichter bedrängten, während ein sechster den Elfmeterpunkt mit den Stollen zertrat. Einen Freistoßpfiff ohne Diskussion gibt es im Fußball offenbar gar nicht mehr. Beim Hockey gilt: Kommt ein zweiter Spieler zum Schiedsrichter, um zu protestieren, wird er mit einer Zeitstrafe belegt.

Robert Kulawick, 32, hat als Basketball-Profi zehn Jahre in der Bundesliga gespielt, unter anderem für Alba Berlin. "Im Basketball gab es auch die Entwicklung, dass beinahe jede Schiedsrichter-Entscheidung kommentiert wurde." Die Regeln wurden angepasst. Eine unangemessene Reaktion bedeutet heute: technisches Foul. Arme heben und den Mund erschrocken zu einem "Ich war's nicht" aufmachen zum Beispiel reicht schon. "Wenn LeBron James in der NBA "Oh" macht, kriegt er selbst das Foul, nicht sein Gegenspieler", sagt Kulawick. Was für eine Vorstellung: Cristiano Ronaldo, der wegen eines lamentierenden Ausrufs eine Gelbe Karte bekommt.

Fehlt noch was? Jede Menge, zum Beispiel die unfaire Praxis des Karten-Forderns. Beim zweiten Spieltag tat das zum Beispiel Schalke-Trainer Domenico Tedesco vom Spielfeldrand aus. Das hat Signalwirkung: Der Profitrainer, eigentlich ein Vorbild für Jugendfußballer und angehende Trainer, fordert auf übergriffige Weise die Verwarnung eines Spielers, er leistet auf diese Weise seinen Beitrag zur Aufheizung der Stimmung im Stadion. Fußball? Fakeball. Bei keiner anderen Sportart wird so schnell gepfiffen - aber nicht auf dem Platz, auf den Rängen.

"Kein Sport bewegt so viele Menschen wie der Fußball, und dann passieren da regelmäßig derart peinliche Dinge", sagt Footballer Mohr. Die Vergleiche im Netz werden derweil immer mehr: Zum Beispiel die Video-Collage von einem Eishockey- und einem Fußballspieler. Im linken Bildausschnitt bekommt ein amerikanischer Eishockeyprofi einen Puck hart ins Gesicht, rechts ein brasilianischer Fußballer einen Ball leicht an den Rücken. Der Eishockeyspieler wischt sich kurz über den Mund und prüft, ob die Zähne noch heil sind, der Fußballer bricht zusammen.

Athleten anderer Ballsportarten machen sich seit Jahren lustig über den Fußball. Nicht über das Spiel, sondern über die Schauspielerei. Doch die Faszination des Sports kann offenbar durch keine Peinlichkeit beeinträchtigt werden. "Professionell", sagt einer, der im Fußballgeschäft seit Jahrzehnten sein Geld verdient, "ist der Fußball schon - allerdings nur beim Geldverdienen." Vielleicht wäre es ja gar nicht so schwer, Lösungen zu finden, damit der Profifußball wieder attraktiver und fairer wird. Alle anderen Ballsportarten praktizieren es ja schon lange: Der Schiedsrichter kann jederzeit die Uhr und damit die Spielzeit anhalten und den Schauspielern auf dem Platz das Handwerk legen. Das wäre mal ein Anfang.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.4136884
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 22.09.2018
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.