Süddeutsche Zeitung

Kolumne "Vor Gericht":Im Zweifel gegen sich

Lesezeit: 2 min

Menschen, die kein Geld für einen Anwalt haben, müssen sich meist selbst verteidigen. Oft geht das ins Auge.

Von Ronen Steinke

Die Frau, sie ist aus der Ukraine geflohen, hat eine herzerweichende Geschichte zu erzählen. Flehend sitzt sie vor der Richterin am Amtsgericht Berlin-Tiergarten. Sie ist klein und zart, 29 Jahre alt, haucht ihre Worte eher. Sie zeigt im Gerichtssaal auf ihren Ehemann, der aus der Ukraine mitgekommen ist. Er sitzt im Rollstuhl. Seine Hände und Finger sind spindeldürr, wie von Muskelschwund ausgezehrt. Die Frau spricht also die Richterin an und sagt ihr: "Ich möchte mich tausendmal entschuldigen." Sie habe nicht aus Spaß gestohlen bei Lidl. Sieben Packungen Pistazien und vier Packungen Kaffee, das war die Beute. Die Frau sagt: Es habe einen Grund gegeben für diesen kleinen Diebstahl.

Es ist wie so oft vor deutschen Gerichten: Die Angeklagte ist alleine. Sie hat keinen Strafverteidiger, keine Strafverteidigerin. Niemand steht ihr zur Seite. Denn sie hat dafür kein Geld. Der Staat hat ihr auch keinen Pflichtverteidiger bestellt, weil es nur um ein vergleichsweise kleines Delikt geht, Warenwert: 46,59 Euro. Die Frau versucht also, sich selbst zu verteidigen. In einem Land, dessen Sprache sie nicht spricht. Sie sagt, vermittelt durch eine Dolmetscherin: "Der Rollstuhl war kaputt." Für einen neuen Rollstuhl hätte sie etwas zuzahlen müssen. 60 Euro. Deshalb habe sie die Pistazien und den Kaffee gestohlen. Um sie im Flüchtlingswohnheim weiterzuverkaufen und so an ein bisschen Geld zu kommen. "Sonst hätte ich das niemals getan."

Zack, höhere Strafe. Hätte die Ukrainerin mal lieber geschwiegen

Die Richterin schaut verständnisvoll. Der Staatsanwalt weniger. Was die Ukrainerin wahrscheinlich nicht weiß und was sie wahrscheinlich auch nicht wissen kann - im deutschen Recht ist es so: Wer eine Sache stiehlt, um sie weiterzuverkaufen, der kommt nicht milder davon, im Gegenteil: Der kann wegen "gewerbsmäßiger" Begehung belangt werden. Zack, höhere Strafe. Hätte die Ukrainerin mal lieber geschwiegen.

So erlebt man das oft vor Gericht. Menschen, die sich selbst verteidigen, und die sich um Kopf und Kragen reden. So ist es auch ein paar Wochen zuvor gewesen, im selben Gerichtssaal, auf der Anklagebank saß ein Mann aus der Ukraine. Es ging um den Diebstahl einer Packung "Mon Chéri", eines Duschgels und eines Lufterfrischers. Um sich zu verteidigen, erzählte der Mann, dass er inzwischen einen guten Job auf dem Bau gefunden habe, 2000 Euro netto im Monat. Sprich: Seid beruhigt, in Zukunft werde ich nicht mehr stehlen müssen! Von mir geht keine Gefahr mehr aus!

Was der Ukrainer aber nicht wusste und was ihm wahrscheinlich auch niemand erklärt hatte: Geldstrafen werden in Deutschland immer proportional zum Einkommen berechnet. Das heißt, wer freiwillig erzählt, dass er neuerdings mehr verdiene, der löst damit eines aus: Zack, höhere Strafe. Dem Ukrainer hat es, ebenso wie der Ukrainerin, deren Ehemann im Rollstuhl sitzt, auch bei der Urteilsverkündung niemand erklärt. Stattdessen nur: "Sie können innerhalb von einer Woche schriftlich oder zu Protokoll der Geschäftsstelle Berufung oder Revision einlegen." Sie kriegen noch eine Chance, sich selbst zu verteidigen.

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