Süddeutsche Zeitung

Landkarten:Die letzten weißen Flecken

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Obwohl die Erde erforscht und vermessen ist, gibt es noch viel zu tun für Kartografen. Über die Faszination, zu den unbekannten Orten des Planeten vorzudringen.

Von Titus Arnu

Es geschehen mysteriöse Dinge im Nebelwald von Utcubamba. Das bergige Dschungelgebiet in der peruanischen Provinz Amazonas ist so unzugänglich, dass dort neben Pumas, Tukanen, Kolibris und Papageien auch Sagengestalten ihr Refugium finden. Bei den Einheimischen, dem Volk der Gocta, geht die Legende von einer schönen blonden Sirene um, die in der Lagune eines Wasserfalls wohnt. Sie gilt als Mutter der Fische und Hüterin eines Goldschatzes. Wem sein Leben lieb ist, so sagen die Einheimischen, der wagt sich besser nicht in ihre Nähe. Der Bauer Juan Mendoza soll einst von der Stimme der Sirene verzaubert worden sein - in einen Felsen verwandelt, muss der arme Kerl seitdem gewaltige Wassermassen ertragen, die über seine Schultern ins Tal stürzen.

Wirklich? Der Wasserfall war lange auf keiner Landkarte verzeichnet, es gab nur das Geraune der Gocta. Stefan Ziemendorff, ein deutscher Entwicklungshelfer, sah ihn als erster westlicher Besucher erst im Jahr 2002 während einer Expedition in dem Naturreservat. 2006 kehrte Ziemendorff mit einem peruanischen Forschungsteam zurück, um den Wasserfall zu vermessen - mit erstaunlichem Ergebnis: 771 Meter, mit einer Messunsicherheit von 13,5 Meter. Auf einer Pressekonferenz sagte Ziemendorff, es handele sich um den dritthöchsten Wasserfall der Welt, der nur vom Salto Ángel in Venezuela (972 m) und den Tugela Falls in Südafrika (948 m) übertroffen werde. Laut einer anderen Zählweise ist der Gocta-Fall zwar nur auf Rang 15, weil er über mehrere Stufen fällt - aber er ist zu einer der größten Touristenattraktionen in Peru geworden.

Wer sich die lange Anreise sparen will, kann den Wasserfall auf Google Earth besichtigen. Auf Google Maps ist zu erkennen, dass eine Straße bis zu einem Ort namens Cocachimba führt, zwei Kilometer vor dem Catarata Gocta. Wie konnte der riesige Wasserfall so lange unentdeckt bleiben? Ist nicht die ganze Welt längst komplett vermessen, kartografiert und erforscht? Ständig kreisen Satelliten um unseren Planeten und scannen die Erdoberfläche, Google fotografiert weltweit Häuser ab, bei der NSA schreiben sie unsere Einkaufslisten mit. Wie kann es überhaupt sein, dass da noch weiße Flecken auf der Landkarte übrig bleiben?

Das Zeitalter, in dem ganze Kontinente entdeckt wurden, ist lange vorbei, aber es gibt sie tatsächlich noch, die unbekannten Orte. Viele Wüstengebiete, weite Flächen am Nord- und am Südpol wurden bisher nur von Satelliten aus erfasst, aber noch nie von Menschen betreten. Im Himalaja wurden zwar alle Achttausender schon bestiegen - es gibt aber viele Sechstausender in Ost-Tibet, Nepal und Pakistan, auf denen noch niemand stand, die meisten haben nicht mal Namen. Im Kongo sind zwei Drittel aller Flüsse noch nicht kartografiert, im Amazonas-Gebiet ist es ähnlich. In Zentral-Grönland wurde 2013 mithilfe von Radarmessungen unter dem Eis eine 750 Kilometer lange und bis zu 800 Meter tiefe Schlucht entdeckt. Erdi-Ma, ein Felsplateau in der Sahara, wurde erst 2005 erforscht. In Venezuela gibt es 3000 Meter hohe Tafelberge, auf denen noch niemand stand. Auch der größte Vulkan des Planeten war bis 2013 unbekannt: Das Tamu-Massiv, ein erloschener Supervulkan am Pazifikboden östlich von Japan, so groß wie die Britischen Inseln.

"Weiße Flecken sind zunächst einmal eine Frage des Maßstabs", sagt Manfred Buchroithner, Professor für Kartografie an der Technischen Universität Dresden. "Wenn man grobe Satellitendaten nimmt, die eine Auflösung von mehreren Kilometern haben, ist auf der Weltkarte alles abgedeckt", erklärt er. Bei höherer Auflösung sieht es anders aus. Ein Maßstab von 1:50 000 bedeutet, dass man eine Auflösung von 50 Zentimetern benötigt, "und das war bis vor Kurzem längst nicht für alle Regionen der Welt gegeben", sagt Buchroithner. Er hat sich lange mit dem Thema beschäftigt, sowohl akademisch als auch praktisch. Der begeisterte Alpinist hat selbst einige hohe Berge als erster Mensch betreten: Er war Solo-Erstbesteiger des Koh-e Asp-e Safed (6101 Meter, Afghanischer Pamir 1975) und gehörte zu den Erstbesteigern des Tenzin Gyatso Peak (6004 Meter, Tibetischer Himalaja, 1992, gemeinsam mit Hans-Dieter Sauer und Bernhard Jüptner). Buchroithner hat unter anderem an der Stanford University und für die Nasa gearbeitet, er hat schwer zugängliche Hochgebirgsregionen und unwegsame Schluchten kartografiert. Nebenbei eröffnet er immer mal wieder neue Sportkletterrouten in den Alpen, beseitigt dort also auch eine Art weißer Flecken.

Wie kann es sein, dass ein 771 Meter hoher Wasserfall erst so spät entdeckt wurde?

Anfangs arbeitete Buchroithner analog, mit Papierkarten, Vermessungsinstrumenten und Fotos, heutzutage kann er auf vielfältige digitale Daten zurückgreifen. 2013 hat Frankreich den Satelliten Pléjades ins All geschossen, er liefert Aufnahmen von bis zu einem halben Meter Auflösung. Wenn die Bilder nicht militärische Informationen berühren, dann können Wissenschaftler sie verwenden. Ebenso entstehen präzise digitale Geländemodelle für die ganze Welt. Buchroithner überprüfte ein solches Digitalmodell vor Ort in einer Hochgebirgsregion im Dreieck Tibet, Indien und Nepal und stieß auf eine unglaublich große Genauigkeit: "Da ist jeder Fleck mindestens auf den Meter genau dreidimensional kartiert."

Wie kann es dann sein, dass ein 771 Meter hoher Wasserfall erst so spät entdeckt wurde? Oder dass es Gebiete gibt in der Atacama-Wüste, die touristisch erschlossen sind, aber nicht komplett kartografisch erfasst? Das liege am Unterschied zwischen Geometrie und Oberfläche, sagt Buchroithner. Ein digitales Geländemodell mag rein mathematisch korrekt sein, aber über die Oberflächenbedeckung vor Ort sagt es nicht viel aus. Denn es kann sich um einen Dschungel handeln, eine senkrechte Wand oder eine unbegehbare Eisfläche. Überall dort, wo schmale Fußwege über Schotter und felsiges Gelände führen, kann man diese Routen nicht aus dem All erkennen. Felsabbrüche erscheinen als Linie, nicht als Fläche. Deshalb kommt man auch heutzutage nicht umhin, einen unbekannten Fleck auf der Weltkarte zu entdecken, indem man ihn persönlich betritt. In den meisten Fällen ist das ziemlich mühsam.

Entdeckungen sind immer auch eine Frage der Motivation. Im Zeitalter der großen Entdeckungen, vom 15. bis zum 18. Jahrhundert, ging es den europäischen Seefahrern um Expansion, um Bodenschätze und um die Verbreitung des christlichen Glaubens. Das Stichwort "Terra incognita" war eine Verheißung, Königshäuser finanzierten Forschern ihre abenteuerlichen Reisen, in der Hoffnung, damit Macht und Ruhm zu mehren. Im Jahr 1883 sprach Sir Clements Markham, britischer Forscher und Präsident der Royal Geographical Society, zum ersten Mal von "blank of the maps", was der deutsche Asienreisende Sven Hedin als "weiße Flecken" übersetzte. Diese von der Weltkarte zu tilgen war das Ziel von Forschern wie Alexander von Humboldt und Sven Hedin.

Heute kann man sich mit der Computermaus an fast jeden beliebigen Punkt der Erde klicken, man kann am Bildschirm virtuell den Mount Everest besteigen (www.everest3d.de; project360.mammut.ch), es gibt Dokumentationen über die Antarktis in HD-Qualität. Die Welt ist scheinbar zu einem Dorf geschrumpft.

Wozu sollte man sich überhaupt die Mühe machen, eine Expedition zu einem namenlosen Sechstausender in Kirgisistan zu unternehmen? Für Dennis Gastmann sind es fremdartige Kulturen und bizarre Umgebungen, die ihn an völlig entlegene Orte locken. In seinem gerade erschienenen "Atlas der unentdeckten Länder" besucht der Autor die autonome Provinz Karakalpakistan am Aralsee, den Mikro-Staat Akhzivland in Israel, die Südseeinsel Pitcairn und eine Geisterstadt in Ra's al-Chaima, einem saudiarabischen Emirat. Es sind keine weißen Flecken im geografischen Sinn, aber sehr entfernte Ausläufer unserer Zivilisation, die Gastmann auf sehr unterhaltsame Art zugänglich macht.

Auf Google Earth gibt es Stellen, die gefaked sind - nicht nur aus militärischen Gründen

Weiße Flecken sind auch eine politische Frage. "Geowissen ist Macht", sagt Kartograf Manfred Buchroithner. Das war zu Zeiten von Kolumbus so, und es ist heute immer noch so - in Nordkorea ebenso wie in Russland, den USA und in Syrien. Vor dem Syrien-Krieg sollte Buchroithner touristische Karten für das Assad-Regime erstellen. Alles wurde vermessen und digitalisiert, aber bis heute sind die Straßen auf Google Maps nicht zu finden - weil in Syrien daran niemand Interesse hat. Auch bei Google Earth gibt es viele Stellen, die gefaked sind, wie früher in der DDR. Nicht nur aus militärischen Gründen, auch aus wirtschaftlichen: In Afrika existieren laut Buchroithner Wasserprojekte, die auf keiner Karte auftauchen.

Die Kartografen haben noch viel zu tun. Sie haben erst damit begonnen, fast senkrechte Felslandschaften im Hochgebirge zu erfassen, samt Routen und exponierten Stellen. Forscher des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR) haben in Zusammenarbeit mit der Firma 3D Reality Maps den Mount Everest mithilfe optischer Satellitendaten in einer maximalen Auflösung von einem halben Meter dreidimensional abgebildet. Wer dort in Not gerät, kann nun seine Position punktgenau an die Bergrettung melden, vorausgesetzt, er hat eine Verbindung und kann die Finger noch bewegen. Und ein geophysikalisches Vermessungs-Projekt am Südpol ergab vor Kurzem, dass die Antarktis keine zusammenhängende Landmasse ist, sondern eher ein Schären-System aus Inseln und Fjorden. "Es wird noch einige Jahrzehnte dauern, bis wir wirklich alles über die Erdoberfläche wissen", sagt Manfred Buchroithner.

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SZ vom 25.06.2016
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