Süddeutsche Zeitung

Künstliche Ernährung:Lebensende darf nicht zur Haftungsfrage werden

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Der Bundesgerichtshof sollte im Urteil zu künstlicher Ernährung an die Verantwortung der Ärzte erinnern, eine finanzielle Haftung aber ausschließen.

Kommentar von Wolfgang Janisch

Man muss Wolfgang Putz danken, dass er diesen Prozess zum Bundesgerichtshof gebracht hat. Schon oft hat der Münchner Rechtsanwalt vor Gericht darum gekämpft, das Recht auf ein humanes Sterben durchzusetzen, manchmal anhand spektakulärer Fälle, aber immer mit dem Ziel, der Menschenwürde auf den letzten mühseligen Metern des Lebens zur Geltung zu verhelfen. Es ist also richtig, dass er das oberste Zivilgericht und die deutsche Öffentlichkeit mit einer fundamentalen Frage konfrontiert: Besteht die Hilfe, die ein Arzt einem schwerst kranken Menschen noch geben kann, nicht im Verzicht auf die Erhaltung des Lebens, wenn damit nur das Leiden verlängert würde? Gehört das Sterbenlassen zum hippokratischen Eid? Weil diese Fragen immer wieder ethisch, rechtlich und gesellschaftlich diskutiert werden müssen, ist dem Anwalt zu danken für die aufsehenerregende Klage. Trotzdem wäre es gut, wenn er den Prozess verlöre.

Denn die Klage stellt die Rechtsordnung vor eine beklemmende Herausforderung. Sie betrifft nicht nur ein paar Paragrafen des Betreuungsrechts, sondern rührt an seine Fundamente. Ein Arzt soll 40 000 Euro Schmerzensgeld zahlen, weil er nicht die rechtliche Prozedur eingeleitet hat, um die künstliche Ernährung eines Patienten zu beenden, der seit Jahren ans Bett gefesselt war - unter Schmerzen, regungslos, kommunikationsunfähig. Es gab, medizinisch ausgedrückt, keine Indikation zum Weiterleben. Und es gab keinen Hinweis darauf, was sich der Patient in dieser Situation gewünscht hätte. Wäre es ein normaler Arzthaftungsprozess, wäre es ein klarer Fall. Eine Behandlung ohne Indikation ist rechtswidrig, also besteht ein Anspruch auf Schmerzensgeld.

Nur ist es eben kein normaler Fall. Es geht nicht darum, dass ein Arzt einen Blinddarm herausoperieren wollte, den es nicht mehr gab. Der Vorwurf lautet vielmehr, dass der Arzt nicht den Tod des Patienten gewählt hat, als die bessere Alternative zum Weiterleben, das nur noch ein Weiterleiden war. Er soll haften, weil er das Sterbenlassen verhindert hat. Der leidvolle Lebensrest würde damit zum "Schaden", der finanziell kompensierbar ist. Wäre dies das juristische Mittel der Wahl, dann wäre der nächste logische Schritt die Entschädigungsforderung der Kranken- und Pflegekassen: Warum sollen sie auf all den Kosten sitzen bleiben, die ein Arzt durch eine rechtswidrige Behandlung verursacht hat? Welche Kalkulation eine durchökonomisierte Welt dann aufstellte, ist leicht zu ermessen: Ein Leben, das von Rechts wegen hätte zu Ende sein müssen, wird mit den Kosten gegengerechnet, die es verursacht hat. Da ist es nur noch ein kleiner Schritt zur Schreckensvokabel vom "unwerten Leben".

Nein, die Ärzte mit Haftungsdrohungen unter Druck zu setzen, ist das falsche Mittel - wenn auch für einen legitimen Zweck. Denn das Anliegen ist berechtigt, und es ist überfällig in einer Zeit, in der Magensonden oder Beatmungsmaschinen das Sterben um Jahre hinauszögern können. Der Prozess mahnt Ärzte, aber auch alle anderen Beteiligten zu verantwortungsvollem Handeln, das schwere und manchmal tragische Entscheidungen mit sich bringt. Die Patienten im Zweifel stets künstlich am Leben zu erhalten, ist nur scheinbar human. "In dubio pro vita" kann ein gefährlicher Satz sein, denn Lebenlassen heißt in Wahrheit oft, das Sterbenlassen zu verhindern. Den Tod hereinzubitten, wenn kein menschenwürdiges Leben mehr möglich ist, kann ein Akt tiefer Menschlichkeit sein, so schmerzvoll das für Angehörige ist und so sehr dies der ärztlichen Intuition widersprechen mag. In den ethischen Leitlinien der Mediziner sind diese Grundsätze längst niedergelegt. Es gilt, sie in die Praxis umzusetzen.

Bleibt die Frage: Wie kann das gelingen, wenn ärztliche Gedankenlosigkeit ohne Konsequenzen bleibt? Pekuniäre Anreize gibt es nämlich auch in die andere Richtung, beispielsweise bei der sehr aufwendigen künstlichen Beatmung. Ein Mensch, der jahrelang an einer solchen Maschine hängt, kann für einen Heimbetreiber eine verlässliche Einnahmequelle sein. Hier setzen ökonomische Interessen eher den Anreiz, zu spät als zu früh abzuschalten.

Die Antwort liegt in der Verantwortung der Beteiligten. Das vor zehn Jahren geänderte Betreuungsrecht nimmt alle in die Pflicht, nicht nur den Arzt, auch wenn er am besten weiß, wann das Leid das Leben erdrückt. Aber auch ein rechtlicher Betreuer kann die künstliche Ernährung infrage stellen, wenn ihm das Weiterleben des Patienten sinn- und würdelos erscheint; wer dies aus übergroßer Vorsicht unterlässt, macht sich mitschuldig am Leiden eines Menschen. Gleiches gilt für die Angehörigen, die dem Patienten emotional oft am nächsten stehen; zur Liebe gehört auch das Loslassen. Nicht zuletzt liegt es an jedem, eigene Verfügungen für sein Ende zu treffen. Der Prozess von Karlsruhe ist also ein Appell an uns alle, die Würde des Menschen zu achten, auch am Lebensende. Wenn er gehört wird, dann hat Anwalt Putz schon gewonnen.

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Quelle:
SZ vom 13.03.2019
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