Süddeutsche Zeitung

Kolumne: Vor Gericht:Doppelte Verneinung

Lesezeit: 2 min

Als Beschuldigter hat man Rechte. Nicht immer werden sie aber verständlich genug erklärt. Wie im Fall eines obdachlosen Litauers, der wegen eines kleinen Ladendiebstahls in Haft kommt.

Von Ronen Steinke

Gerade haben Polizisten einen 24-jährigen obdachlosen Litauer in den Raum gebracht. Zerzauste Haare, rotes Gesicht. Er hat eine Nacht in der Zelle gelegen, sieht verkatert aus. Aus seinen schwarzen Turnschuhen hat man die Schnürsenkel entfernt. Die Polizei hat ihn am Tag zuvor auf den Straßen Berlins festgenommen.

Ein Vormittag im Erdgeschoss des Landeskriminalamts Berlin, wo Menschen dem Haftrichter vorgeführt werden. Es ist ein ehernes Prinzip, verankert im Grundgesetz: Wer festgenommen wird wie dieser Mann, der hat das Recht, spätestens bis zum Ende des nächsten Tages entweder freigelassen oder einem Haftrichter vorgeführt zu werden.

Er setzt sich also hin, schwer atmend, erschöpft. Ihm gegenüber sitzt an einem weißen Tisch der Richter, ein recht junger Mann mit Brille. Der Litauer hat nur eine Frage: Warum bin ich hier? Warum hat man mich überhaupt verhaftet?

Geduld bitte, sagt der Richter. "Sie hören bitte bis zum Ende zu."

Der Richter erzählt dann, worum es geht. Ein Diebstahl. Er liegt schon einige Wochen zurück. Zwei Dosen Bier der Marke Faxe, 3,98 Euro. Außerdem Zigarillos, 8,38 Euro. Diese Sachen soll er nahe der bayerischen Stadt Hof gestohlen haben. Der Litauer schaut verwirrt.

Was der Richter eigentlich sagen will: "Sie haben das Recht auf einen Anwalt."

Der Richter redet weiter. Es geht noch um die Rechte, die der Obdachlose jetzt habe. Der Richter redet schnell. Es fallen allerlei Fachausdrücke. Landgericht ... Höhere Instanz ... Haftprüfung ... Und schließlich der Satz: "Ein Verteidiger wird Ihnen ohne Antrag in diesem Verfahrensabschnitt nicht beigeordnet."

Was für eine Wortwahl. "Ein Verteidiger wird Ihnen ohne Antrag in diesem Verfahrensabschnitt nicht beigeordnet": Hinter dieser doppelten Verneinung verbirgt sich eigentlich eine sehr simple Aussage. Sie haben das Recht auf einen Anwalt! Wenn Sie einen möchten, rufe ich Ihnen sofort einen! Das kostet Sie nichts, und dann kann der Ihnen alles erklären und Sie beraten!

Der obdachlose Litauer sieht den Richter nur stumm an. Dann fragt er noch einmal, in gebrochenem Deutsch: Warum bin ich hier - in Haft?

Schließlich schiebt der Richter auf dem Tisch vor sich ein paar Papiere zusammen. Er trifft eine Entscheidung: Ein Gefangenentransport wird den Mann jetzt in die Berliner U-Haftanstalt bringen, ein altes Gemäuer. Und dann bei nächster Gelegenheit nach Bayern. Ein Bus mit der Aufschrift "Justiz" wird über die Autobahn fahren; mit vielen Zwischenstopps in anderen Gefängnissen, um weitere Häftlinge einzusammeln. Mit Übernachtungen. So eine Reise kann Tage dauern. Vielleicht wird dem Litauer dann, angekommen in Bayern, ein Haftrichter sagen: Wenn Sie möchten, rufe ich Ihnen jetzt einen Anwalt, das kostet Sie nichts!

Oder vielleicht auch wieder nur: "Ein Verteidiger wird Ihnen ohne Antrag in diesem Verfahrensabschnitt nicht beigeordnet", wer weiß.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.5836361
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.