Süddeutsche Zeitung

Dem Geheimnis auf der Spur:Gestreifter Bösewicht

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Fruchtbar und furchtbar: So unausrottbar wie der Kartoffelkäfer sind auch die Propaganda-Märchen über sein Auftauchen aus heiterem Himmel.

Von Willi Winkler

In Brehms Tierleben wird sein Vordringen wie das einer feindlichen Armee geschildert: "Im Jahre 1859 war er noch hundert Meilen westlich von Omaha in Nebraska entfernt. 1865 überschritt er den Mississippi und brach in Illinois ein, 1870 hatte er sich bereits in Indiana, Ohio, Pennsylvanien, Massachusetts und im Staate Neuyork eingenistet; 1871 bedeckten Schwärme desselben den Detroit-River in Michigan, überschritten den Erie-See auf schwimmenden Blättern, Spänen, Schindeln und andern Holzstückchen und begannen ihre Verwüstungen in den Landstrichen zwischen den Flüssen St. Clair und Niagara."

Lange dauerte es nicht, da erreichte der sogenannte Colorado-Käfer auf seinem Weg nach Osten auch die europäischen Häfen. 1877 ging er in Liverpool, Rotterdam und am Rhein in Mühlheim an Land und fraß sich hingebungsvoll durch halb Europa. Anpassungsbereit war das polyphage Kerbtier von der Büffelklette auf die Kartoffelstaude umgestiegen und konnte damit die wichtigste Nahrungspflanze ruinieren. "Da dieser Kartoffelfeind die grünen oberirdischen Teile verschwinden läßt", erläuterte der Brehm in der Ausgabe von 1884, "so können die Pflanzen keine oder nur höchst unvollkommene Wurzelknollen ansetzen, und die Kartoffelernte fällt mehr oder weniger aus."

Der Kartoffelkäfer als Kampfmaschine

Der Kartoffelkäfer, wissenschaftlich Leptinotarsa decemlineata (der zehnstreifige Leichtfüßler), wird nur ein bis anderthalb Zentimeter lang, ist aber erschreckend fruchtbar. Zwei Mal im Jahr legen die Weibchen bis zu 1200 Eier, aus denen rötliche Larven schlüpfen. Sie verpuppen sich in der Erde, und bereits nach vier Wochen frisst die nächste Generation den Knollen das für die Fotosynthese unerlässliche Kraut weg.

In der vergangenen ersten Jahrhunderthälfte entwickelte sich der Kartoffelkäfer zu einer Kampfmaschine, jedenfalls im Propagandakrieg. So bezichtigten sich Frankreich und Deutschland gegenseitig, den anderen mit diesem biologischen Kampfmittel angreifen zu wollen. Die Biologische Reichsanstalt richtete deshalb 1935 einen "Kartoffelkäfer-Abwehrdienst" (KAD) ein, lobte für Kartoffelkäferklauber Prämien aus und verlieh "Kartoffelkäfer-Anstecknadeln". Die Jugend wurde zum Abwehrkampf einberufen, preiswertes Reimgut wie "Sei ein Kämpfer, sei kein Schläfer,/ acht' auf den Kartoffelkäfer!" kam in Umlauf.

Helmut Köstlin, ein waschechter Dr. rer. nat. (1924 in Halle promoviert mit Ausführungen zur "physiologischen Anatomie gelber Ranunculus-Blüten"), knittelte 1941 im Auftrag des KAD und des "Reichsnährstands" eine "Kartoffelkäferfibel" zusammen, informierte gründlich über Ausbreitung und Vermehrungsfreude des Volksschädlings und warnte vor der "Weltgefahr": "Bot man ihm auch Widerstand/ Alles hat er überrannt."

Die Amerikaner waren da noch gar nicht in den Krieg eingetreten. Zwei Jahre später waren sie es, die angeblich die Weltgefahr abgeworfen hatten, um den Deutschen die Nahrung wegzunehmen. Die einzigen jedoch, die erwiesenermaßen mit dem Kartoffelkäfer in die Kampagne zogen, waren die Deutschen. 14 000 für einen allfälligen Einsatz gezüchtete Käfer wurden im Oktober 1943 bei Speyer in einem "feldmäßigen Versuch" aus 8000 Metern Höhe abgeworfen. Am Boden fanden sich dann genau 57 lebende Tiere.

Den Systemwechsel überstand der schwarzgelbe Käfer mühelos. Krieg und Nachkrieg erleichterten ihm den weiteren Vormarsch nach Osten. 1950 war ein großer Teil der Kartoffelfelder in der neugegründeten DDR vom Käfer befallen, in Polen und der Tschechoslowakei gab es weitere Ausfälle, und so kam es, wie es kommen musste: zu vermehrten Sichtungen im bewährten Wissen, dass es die Amerikaner waren, die es von oben regnen ließen. Da herrschte bereits der Kalte Krieg, der im Juni 1950 sehr ernst wurde, als Nordkoreas Truppen die Demarkationslinie überschritten. Die USA arbeiteten wie die Sowjetunion an der Entwicklung biologischer Kampfstoffe. Die USA, so verkündete es der DDR-Funk, hätten sich bisher darauf beschränkt, den Kartoffelkäfer über Ostdeutschland abzuwerfen, doch "gibt es keinen Zweifel daran, dass sie auch bereit sind, Bomben abzuwerfen".

Bertolt Brecht, der das Dritte Reich zum großen Teil in den USA überstanden hatte, ereiferte sich in einem agitproppigen Gedicht über den Feindflug: "Mutter, ich weiß nicht/ warum ich so hungrig bin./ Die Ammiflieger fliegen/ Silbrig im Himmelszelt:/ Kartoffelkäfer liegen/ In deutschem Feld."

Auf der anderen Seite, in West-Berlin, schien auch Gottfried Benn, im Hauptberuf Arzt, spezialisiert auf venerische Krankheiten, dieser östlichen Propaganda zu glauben. Für den Kartoffelkäfer zeigte der zeitweilige Züchtungsexperte seit je eine besondere Schwäche und schimpfte im besten Nazi-Jargon über die (von den Amerikanern subventionierten) Schriftsteller, die sich gerade in der Stadt beim "Kongress für kulturelle Freiheit" trafen: "Diese Intellektuellen sind tatsächlich die Kartoffelkäfer jedes geordneten, einigermassen ausgerichteten Staats, sie sind wirklich zersetzend. . . ".

Wieder wurde gesammelt, wieder ging es um Höchstleistungen, wieder gab es Prämien, statt HJ-Uniformen zeigten die Lehrbilder die Blauhemden der Freien Deutschen Jugend (FDJ). War also alles Propaganda? Tatsächlich gab es 1948, noch vor dem Koreakrieg, Meldungen über Päckchen mit Larven in Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen - wo kamen die her? Vor einer völligen Klärung, so der Göttinger Anthropologe Bernd Herrmann, der sich sogar durch die Stasi-Akten gearbeitet hat, sollte "das völlig Unwahrscheinliche nicht ausgeschlossen werden".

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Quelle:
SZ vom 09.01.2021
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