Süddeutsche Zeitung

Historie:Das Volk muss schweigen

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Vor den Duma-Wahlen am 18. September: Ratlos verfolgt der Westen, wie Putins Reich immer autoritärer wird. Und die Demokraten? Sie spielen traditionell eine Nebenrolle.

Von Frank Nienhuysen

Die Braut traute sich was. In einem blendend weißen Hochzeitskleid und mit einem Blumenstrauß im Arm wagte sie sich in Moskaus größten Massenprotest, in eine Stimmung aus Wut, Enttäuschung und Kampfeslust. Etwas schleierhaft war das schon. Der nahe Kremlpalast und die Kuppeln des Glockenturms sollten als Kulisse für hübsche Hochzeitsfotos herhalten; dass hier gerade Zehntausende Menschen gegen die manipulierte Parlamentswahl demonstrierten, habe sie gar nicht gewusst, sagte sie. Nun presste sich die blonde Frau mit dem ausladenden Brautkleid durch die Sicherheitsschleuse, dem Nadelöhr am Bolotnaja-Platz. Die entzückte Menge um sie herum applaudierte - was für eine charmante Note brachte sie doch in diese ernsthafte Kundgebung.

"Ich bin auch für ehrliche Wahlen", sagte die Braut solidarisch, dann hängte sie lächelnd ein messingfarbenes Glücksschloss an einen Metallbaum und verließ den Ort wieder. Auf dem Schloss standen die Worte "eine gute Wahl" - in diesem Moment wirkten sie wie blanke Ironie.

Dezember 2011, Moskau erlebte die ersten Schneeflocken des Winters und die größten regierungskritischen Proteste seit dem Ende der Sowjetunion. "Genosse Beschisski" stand auf einem Plakat, das ein Demonstrant hochhielt, denn die Duma-Wahl war geprägt von Einflussnahme und Einschüchterungen zugunsten der Regierungspartei Einiges Russland. Unverfroren wurden Ergebnisse gefälscht, in der Provinz erhielten Studenten Konzerttickets zur Belohnung, wenn sie die Regierungspartei wählten; Arbeitgeber machten ihren Mitarbeitern deutlich, wie sie abstimmten sollten, der Leiter der Wahlkommission wurde als "Zauberer" verspottet - und trotz all dem musste die Partei von Präsident Wladimir Putin offiziell noch starke Verluste hinnehmen. Es waren seltene Wochen, in denen viele Russen bereit waren, für ihre demokratischen Rechte auf die Straße zu gehen. Für den Kreml waren die Proteste eine Warnung.

Seitdem tagt in Russland eine Duma, in der es Vielfalt nur bei den Namen der Parteien gibt. Sie alle fühlen sich einer ähnlichen Aufgabe verpflichtet: Gesetze im Sinne des Kremls zu verabschieden. Das Agentengesetz etwa, das alle Organisationen stigmatisiert, die finanzielle Unterstützung aus dem Ausland erhalten und sich politisch betätigen. Oder das verschärfte Demonstrationsgesetz, eine stärkere Kontrolle des Internets. Eine echte Opposition existiert im russischen Parlament nicht. Vor vier Jahren gab es einen Gesetzentwurf, der Amerikanern verbot, russische Waisenkinder zu adoptieren. Hoch umstritten war er in der Gesellschaft. Als Putin signalisierte, dass er die Vorlage akzeptieren würde, nahm die Duma sie eilig an. Und die Debatte war erledigt.

"Das russische Parlament ist ein Leichtgewicht, erdrückend dagegen ist die Rolle der Exekutive und des russischen Präsidenten", sagt der Kölner Osteuropa-Historiker Gerhard Simon. "Auch für ein autoritäres System ist ein Parlament wichtig, es ist die Instanz, die politische Entscheidungen absegnet, sie legitimiert. Aber wichtig ist auch, dass man den Ausgang einer Wahl vorher kennt." Gewählte Abgeordnete als Claqueure der Mächtigen, das Parlament ein Abnick-Organ - ist das in Russland nun mal so, wie ein Naturgesetz?

Die Geschichte Russlands ist reich an starken Zaren, mächtigen Parteichefs und ehrgeizigen Präsidenten. Schlechte Bedingungen also für Parlamente, für einen bunten Markt an Meinungen, würzige Debatten und kesse Abgeordnete. Aber es ist eine Mär, dass Russland Pluralismus nicht wirklich kenne. Es hat ihn immer wieder gegeben. Sogar schon zur Zarenzeit.

"Ist das Dummheit oder Verrat?" 1916 forderte die gewählte Duma den Zaren offen heraus

Es war 1906, als die russische Monarchie erstmals eine Reichsduma erhielt. Natürlich nicht etwa, weil der Zar ein demokratischer Pionier war. Nikolaus II. wollte seine Haut retten. Proteste von Arbeitern gegen die Obrigkeit und Massenstreiks waren damals schon fast zu einer Revolution ausgewachsen und bedrohten seinen Thron. Ein Parlament und mehr Bürgerrechte sollten das Volk beruhigen. Es war ein sonniger Feiertag, Schulen und Fabriken hatten geschlossen, Flaggen zierten die Stadt, als sich der Zar im Georgssaal des Sankt Petersburger Winterpalasts zwischen die mächtigen korinthischen Säulen stellte und zur Eröffnung der Duma eine Thronrede hielt. Sie war von nun an ein Ort verschiedenster Parteien und Meinungen. Nicht mächtig, aber pluralistisch. Sozialdemokraten, bürgerliche Liberale, sie alle fanden sich im Taurischen Palais ein, dem Sitz der neuen Duma.

Zehn Jahre später hielt der Anführer der Konstitutionellen Demokraten, Pawel Miljukow, in der Duma eine fulminante kritische Rede. Getragen vom politischen Klima, der Last des Weltkriegs, der Malaise der russischen Armee und den Folgen für die darbende Bevölkerung, griff der Abgeordnete 1916 mit rhetorischer Wucht die Regierung und indirekt das zaristische Herrscherhaus an. Mehrmals ließ er seine Anklagen mit der Frage enden: "Ist das nun Dummheit oder Verrat?" - "Dummheit", rief einer dazwischen, "Verrat", brüllte ein anderer. "Das eine wie das andere", rief ein weiterer Abgeordneter, "Bravo, Bravo" schallte es, es gab Gelächter, es war laut, es rumorte, immer wieder musste der Duma-Vorsitzende das bebende Abgeordnetenhaus zur Ordnung rufen.

Lenins Bolschewisten beseitigten das Parlament 1917 mit Gewalt

Der Zar ließ das Parlament zunächst gewähren, sorgte aber dafür, dass es nicht zu mächtig würde. Von seinem Vetorecht machte er reichlich Gebrauch. Dann aber folgte der Sturm der russischen Revolution, und er sollte den Parlamentarismus mit Wucht treffen und erschlagen. Die Bolschewisten hatten die Kontrolle in der damaligen Hauptstadt bereits übernommen, die Monarchie war abserviert, als im Spätherbst 1917 eine Verfassunggebende Versammlung gewählt wurde, die eigentlich die Zukunft Russlands bestimmen sollte. Die Bolschewisten erhielten allerdings nur etwa ein Viertel aller Stimmen - für Lenin, den Revolutionär, war es ein Signal zum Handeln.

Bis tief in die Nacht zog sich die emotionale Eröffnungsversammlung wenige Wochen später hin. Es gab ein Gerangel über die Befugnisse des Plenums, dann griffen die Rotgardisten durch. Um fast fünf Uhr in der Früh, nach Schimpftiraden und Drohungen gegen Abgeordnete, stellte sich ein Matrose, der zur Palastwache gehörte, ans Rednerpult und sagte: "Die Wache ist müde." Alle Abgeordneten mussten gehen, die Versammlung wurde aufgelöst, anderntags blieben die Türen geschlossen. Lenin setzte ganz auf die revolutionäre Klasse und schuf einen Obersten Sowjet. Der Parlamentarismus in Russland war am Ende, die junge Demokratie starb kurz nach ihrer Geburt. "Alles im Namen der revolutionären Diktatur", sagte Lenin.

Jahrzehntelang gab es in der Sowjetunion keine offenen Auseinandersetzungen mehr. "Lenin hat das Parlament abgeschafft, für ihn war es ein Relikt der Bourgeoisie", sagt der Osteuropa-Historiker Simon. Während der langen Einparteien-Herrschaft der Kommunisten war für abweichende Meinungen kein Platz. Umso bemerkenswerter war das, was sich im Sommer 1988 im Kongresspalast des Moskauer Kreml ereignete.

"Genossen Delegierte", sprach der Generalsekretär der Kommunistischen Partei, Michail Gorbatschow, "wie können wir die revolutionäre Umgestaltung in unserem Land vertiefen und irreversibel machen?"

Vier Tage lang debattierten fast 5000 Partei-Delegierte über das Land und seine Zukunft, stellten das gesamte System infrage. Hardliner flüchteten sich ängstlich in die sowjetische Vergangenheit, Gorbatschow verteidigte seine Perestroika, dem jungen Delegierten Boris Jelzin wiederum ging alles nicht radikal und schnell genug. "Die Partei ist für das Volk da. Und das Volk soll wissen, was die Partei macht. Leider gibt es das nicht", rief er. Es war die Zeit, als Jelzins Stern aufging - und der Pluralismus im verkrusteten Imperium eine neue Chance bekam.

Wenige Monate später wurde der Kongress der Volksdeputierten geschaffen, im März 1989 wählte das Land erstmals in der Sowjetunion ein wenigstens einigermaßen freies Parlament. Regimekritiker wie der Nobelpreisträger Andrej Sacharow konnten nun kraftvoll die Führung attackieren. Doch bald sollte auch das schon wieder Geschichte sein, wie die Sowjetunion selber.

Ausgerechnet Jelzin wurde dabei zur Hauptfigur eines traurigen Spektakels. Im August 1991 hatte er zupackend den Weg zur Demokratie verteidigt, als er vor dem Weißen Haus in Moskau demonstrativ auf einen Panzer kletterte und sich gegen die rückwärtsgewandten Putschisten stellte, die Gorbatschow entmachten und seinen Reformkurs stoppen wollten. Jelzin war damals noch Präsident der russischen Sowjetrepublik.

"Die Mehrheit gehört jetzt jenen, die für den Polizeistaat stehen."

Im Oktober 1993 aber war er Präsident des unabhängigen Russland, und das Weiße Haus am Ufer der Moskwa Sitz des Parlaments - nach Ansicht Jelzins eine Bastion von Renegaten, die sich gegen eine Verfassungsänderung und gegen demokratische Reformen stellten. Für ihn war klar: Dieser Oberste Sowjet stand einem Neuanfang Russlands im Wege. In einem bornierten Machtkampf löste Jelzin das Parlament auf, das aber widersetzte sich. Anfang Oktober fuhren in Moskau Panzer auf und beschossen das Weiße Haus. Feuer und Rauch drang aus zerborstenen Fenstern des Parlaments, und die Welt schaute zu. Mehr als hundert Menschen starben.

"Dieser Beschuss war der Sündenfall der jungen russischen Demokratiebewegung", sagt Simon. "Jelzin hätte mit diesem Parlament zusammenarbeiten müssen, zumal damals ja auch Wahlen anstanden." Zwei Monate später stimmte das Land für eine neue Verfassung. Nach fast 80 Jahren wurde in Russland wieder eine Duma geschaffen. Das Problem: Sie hatte nicht die Macht der Parlamente in westlichen Demokratien. Wieder ist es fast allein der Präsident, der lenkt.

In den Neunzigerjahren regierte Jelzin zunehmend nach Herzenslust mit Dekreten das Land. Immerhin, in der Duma, neben dem Föderationsrat eine der beiden Kammern des Parlaments, war wieder Platz für Liberale. Kommunisten, nationalistische Radikale mit dem euphemistischen Etikett "Liberaldemokraten" stritten sich in Debatten mit echten Demokraten. "Anders als heute haben sie dem Präsidenten nicht nach dem Mund geredet, es gab ein großes Spektrum an Meinungen", sagt Simon. Dann kam Putin.

Mit Putin endeten die Zeiten, in denen der Kremlchef bangen musste, ob er seinen nominierten Ministerpräsidenten durchsetzen konnte. Der Kreml übernahm die Kontrolle der nationalen Fernsehsender, und mit der Wirkungsmacht der elektronischen Medien brachte er auch das Parlament auf Linie. Schon 2003 erreichten die Putin-treuen Parteien, unter ihnen die eigens erschaffene Einiges Russland, die absolute Mehrheit. Westlich orientierte Parteien wie Jabloko oder die Union rechter Kräfte von Boris Nemzow scheiterten an der Fünf-Prozent-Hürde. Schon damals gab es Zweifel an der Stimmenauszählung, verbittert sagte Nemzow, "die Mehrheit im Parlament gehört jetzt jenen, die für den Polizeistaat stehen, für das Ende der bürgerlichen Freiheiten". Putins "gelenkte Demokratie" hatte gesiegt.

Das Parlament hat seitdem nicht nur keine Macht, es hat auch keine Vielfalt. Bunt war es vor allem, weil sich die Duma mit loyalen Berühmtheiten schmückte: etwa mit dem Box-Weltmeister Nikolaj Walujew, der Astronautin Walentina Tereschkowa, dem Sänger Jossif Kobson, der Eishockey-Legende Wladislaw Tretjak.

Und die Opposition? Ist chancenlos. Weniger, weil sie zerstritten ist, sondern vor allem, weil sie bekämpft, von den wichtigen Medien ausgesperrt oder denunziert wird. "Opposition ist zum Schimpfwort geworden, sie gilt als kriminell oder am Rande kriminell", sagt der Historiker Simon. "Das zeigt, wie weit sich das Land entfernt hat von Pluralismus und Toleranz."

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SZ vom 17.09.2016
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