Süddeutsche Zeitung

Historie:Agenten am Strand

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Ein Film erzählt die Geschichte, wie der Mossad äthiopische Juden über ein Tauchhotel am Roten Meer nach Israel brachte.

Von Moritz Baumstieger

Die Tourismusbroschüre, in der die Wahrheit über eine Destination verraten wird, muss noch produziert werden. Meist ist der Himmel etwas blauer, der Strand etwas weißer, die Baustelle neben dem Hotel etwas unsichtbarer. Das Faltblatt aber, das Anfang der Achtzigerjahre in Reisebüros auslag, log so schamlos wie nur wenige andere: "Arous. Eine wundervolle Welt für sich, in der so viel zu sehen und so viel zu tun ist." Der Prospekt zeigte Bilder von bunten Fischen vor bunten Korallen, freundliche Einheimische, Windsurfer und braungebrannte Urlauber, deren blonde Haare in der Sonne glänzten.

Falsch war an dem Blättchen nicht das Lob auf die Schönheit der sudanesischen Rotmeerküste, an die sich Arous schmiegte, der Fisch- und Korallenreichtum nahe der Hafenstadt Port Sudan zog schon die Unterwasserpioniere Hans Hass und Jacques Cousteau an. Und auch an der idyllischen Lage war nichts beschönigt. Rund um die 15 Bungalows mit Meerblick war nichts als Wüste, Sand und Einsamkeit, die Ruhe der Gäste wurde höchstens durch Rufe von Fischadlern und Gazellen gestört.

Die Täuschung von Arous war viel grundsätzlicher: Die Feriensiedlung war eigentlich keine Feriensiedlung, sondern ein Stützpunkt des israelischen Geheimdiensts. Auch wenn dorthin entsandte Agenten wie der heute 69 Jahre alte Gad Shimron immer noch ins Schwärmen kommen, wenn sie von dem freien Leben mitten im Nirgendwo erzählen, sollte Arous nicht der Erholung der Geheimdienstmitarbeiter dienen. Sondern ihnen ermöglichen, im Feindesland zu agieren, um afrikanische Juden zu retten - getarnt als Tauchlehrer oder Hotelmanager.

Die Grundlage für die Mission, die zu einer der schillerndsten in der nicht gerade an Spektakeln armen Geschichte des Mossad zählen dürfte, legte der Oberrabbiner Ovadja Josef 1975 im fernen Jerusalem. Damals erkannte er eine in etwas mehr als 500 Dörfern in Nordäthiopien siedelnde Gemeinschaft als Teil der zehn verlorenen Stämme Israels an. Die Falasha ("Volk ohne Land"), wie sie in Äthiopien abfällig gerufen wurden, nannten sich selbst Beta Israel. Seit dem 16. Jahrhundert hatten Gelehrte diskutiert, ob sie zum Judentum zu zählen sind. Dafür sprach, dass die Beta Israel den Sabbat feierten, den Speise- und Reinlichkeitsvorschriften folgten, die Beschneidung vollzogen und die fünf Bücher Mose in altäthiopischer Sprache lasen. Feiertage wie Hannukah waren ihnen hingegen unbekannt, auch der Talmud, in dem die 613 Gebote und Verbote der Tora interpretiert und ausgelegt werden.

Die Entscheidung von Rabbiner Josef brachte den Beta Israel nicht nur die lange vorenthaltene Anerkennung - sondern auch das Recht zur Aliyah, zur Einwanderung und dem Erwerb der israelischen Staatsbürgerschaft. Abgesehen davon, dass die meisten von ihnen nur eine vage Vorstellung vom "goldenen Jerusalem" hatten, war in der Praxis schwierig, was nun auf dem Papier einfach erschien: Der sozialistische Offizier Mengistu Haile Mariam, der den äthiopischen Kaiser Haile Selassie 1974 gestürzt hatte, verlangte ein geheimes Gegengeschäft. Die Flugzeuge, mit denen Israel äthiopische Juden abholen wollte, sollten Waffen für seine Truppen mitbringen. Als Israels damaliger Außenminister Moshe Dayan das ausplauderte, kassierte Mengistu den Deal - nach nur zwei Flügen, mit denen 125 Äthiopier ausgeflogen wurden.

Dennoch verließen bald Tausende Beta Israel ihre Heimat. Nicht per Flugzeug nach Israel, sondern durch lange Fußmärsche in den benachbarten Sudan, bedroht durch Hunger, Gewalt und Wegelagerer. Der äthiopische Bürgerkrieg, separatistische Aufstände und Hungersnöte zwangen sie dazu.

"Die wahren Helden in der Geschichte sind deshalb auf keinen Fall die Agenten", meint der Ex-Geheimdienstler Gad Shimron heute. "Sondern die Beta Israel. Was die auf sich genommen haben, um ins Heilige Land zu kommen - normale Israelis hätten das nicht drei Tage überlebt."

Shimron hat, getarnt als Hotelmanager, drei Jahre geholfen, äthiopische Juden aus Flüchtlingscamps nach Israel zu schmuggeln. Bereits 1997 hat er über die "Operation Brüder" geschrieben: Sie begann 1979, als der israelische Premier Menachem Begin seinen Geheimdienst beauftragte, die Beta Israel zu evakuieren. "Mossad Exodus" heißt das Buch, man merkt ihm an, dass Shimron in seinem Leben nicht nur Geheimberichte für den Dienstgebrauch verfasst hat. Shimron war parallel zur Agentenkarriere als Zeitungsjournalist tätig, arbeitete als Radio- und TV-Moderator. Heute schreibt er historische Romane und beobachtet im Ruhestand, wie seine beste Geschichte neue Kreise zieht.

Aus dem Stoff, der wie für Hollywood gemacht ist, wurde nun ein Netflixfilm: "The Red Sea Diving Resort" (siehe Kasten) erzählt von der Operation, "bei der wir so ziemlich jede Regel gebrochen haben, die im Handbuch stand", wie Shimron es formuliert. Obwohl er mit dem Film nicht in allen Belangen glücklich ist, freut ihn, dass die Geschichte nun ein breiteres Publikum findet. "Vielleicht hilft der Film, Israel wieder ein besseres Ansehen zu verschaffen", sagt Shimron, der kein Fan der Regierung des rechten Premiers Benjamin Netanjahu ist. "Denn hey: Wann hat es denn so was schon gegeben?" Der Mossad habe als humanitäre Organisation agiert, als der Rest des Westens Benefizkonzerte veranstaltete. "Dort haben sie 'We are the world' gespielt und Geld für Äthiopien gesammelt, von dem das meiste irgendwo versickert ist." Er und seine Kollegen hätten dagegen 12 000 Flüchtlinge evakuiert: "Das erste Mal, dass weiße Männer Afrikaner nicht in Ketten aus ihrer Heimat wegbrachten."

Es gab nur ein Problem mit der geheimen Aktion: Das waren die Touristen

Shimron stand mit den Filmproduzenten in Kontakt, die entwickelten dann aber ihr eigenes Drehbuch. Dennoch enthält der Film so ziemlich alle aberwitzigen Details, die in "Mossad Exodus" zu lesen sind: Wegen Sudans Lage am Roten Meer, an dessen nördlichem Ende sich die israelische Hafenstadt Eilat befindet, kam beim Mossad die entscheidende Idee auf: Man könnte doch die Äthiopier mit Schlauchbooten zu israelischen Schiffen bringen. Bei einer Erkundungsmission hatten Agenten eine Ferienanlage an der Küste entdeckt, die eine italienische Firma fertig gebaut, aber nie in Betrieb genommen hatte. Über eine in der Schweiz ansässige Tarnfirma pachtete der Mossad das Gelände für 320 000 Dollar für drei Jahre - eine ungeheuerliche Summe damals im Sudan.

Im Sudan angekommen, holten Shimron und seine Kollegen immer wieder nachts äthiopische Juden aus Camps im Süden des Landes. Dort lebten die Beta Israel, ohne ihre jüdische Identität zu verraten - das wäre im muslimisch geprägten Sudan gefährlich gewesen. Über Untergrund-Aktivisten teilten die Mossad-Leute den Ort und Zeitpunkt mit, an dem sie mit ihren zwei Lastwagen warten würden, dann ging es auf den langen Weg zur Küste. "690 Kilometer, alle 50 Kilometer ein Checkpoint: Wir haben die Wachen mit Zigaretten und Schnaps bestochen, aber auch mit Zwieback. Danach waren die Sudanesen komischerweise verrückt." Wenn die Agenten auf diese Weise nicht weiterkamen, brachen sie mit ihren Wagen manchmal durch die Absperrungen, sagt Shimron - und vertrauten darauf, dass die Geländewagen der Verfolger wie so oft nicht ansprangen.

Einmal kam es aber zu einem Zusammenstoß mit sudanesischen Soldaten: Nach zwei Nächten Fahrt und einem Tag dazwischen, an dem sich die Agenten mit den äthiopischen Juden in einem abgelegenen Wadi versteckten, bestiegen die Beta Israel gerade die Schlauchboote, als eine Patrouille das Feuer eröffnete. "Die waren zufällig in der Gegend und eigentlich auf der Jagd nach Schmugglern", erzählt Shimron. Der Mossad war nicht der einzige, der klandestinen Bootsverkehr am Roten Meer betrieb, die Gegend um Port Sudan war ein Rückzugsort für Netzwerke, die Schafe und auch weniger harmlose Güter über das Rote Meer ins reiche Saudi-Arabien schipperten. Ein Kollege Shimrons begann geistesgegenwärtig, den Kommandanten der heranstürmenden Soldaten anzuschreien, behauptete, gerade eine Gruppe Touristen zu einem Nacht-Tauchgang zu verschiffen - und kam mit der Überrumpelungstaktik durch.

Neben solchen Zwischenfällen bedrohte bald ein anderes Problem die Rettungsaktion: Touristen. Nach einiger Zeit, in der die Agenten vorgaben, das Feriendorf zu renovieren, mussten sie wohl oder übel Gäste aufnehmen, um den Schein zu wahren. Und was als bloße Tarnung gedacht war, entwickelte sich zu einem heiß gehandelten Geheimtipp in Europas Taucherszene und unter in Sudans Hauptstadt Khartum stationierten Diplomaten und Geschäftsleuten: "Das Hotel wurde leider sehr populär", sagt Shimron. "Das wurde wirklich zum Problem für uns. Frischen Fisch gab es immer, aber die Versorgung mit einfachsten Dingen wie Wasser und Strom war schwierig."

Nicht alle Israelis waren bereit, die Äthiopier als Mitbürger zu akzeptieren

Manche Touristen wunderten sich zudem genauso wie die sudanesischen Angestellten, warum die Hotelchefs an Wochenenden verschwanden und völlig übermüdet und verdreckt wieder auftauchten. Aber nur einer, meint Gad Shimron, habe sie durchschaut: Ein kanadischer Taucher nahm eines Tages einen Mossad-Agenten beiseite und sagte ihm auf den Kopf zu, dass er und seine Kollegen nie und nimmer Europäer seien, wie sie vorgaben. Nur Israelis würden ihren Salat so dünn schneiden, sagte der Gast - er hatte eine Weile in einem Kibbuz gelebt.

Nach dem Zwischenfall mit der Armee änderte das Tourismuskommando des Mossad sein Vorgehen: Die Agenten bekamen in Israel einen Crashkurs im Einrichten von provisorischen Landepisten; von nun an holte nicht mehr die Marine, sondern die Luftwaffe die Flüchtlinge ab. "Zeitweise landeten nachts bis zu drei Maschinen irgendwo in der Wüste", erinnert sich Shimron. "Das waren die betriebsamsten Flughäfen im ganzen Sudan."

Im April 1985, Gad Shimron war da bereits ins zivile Leben zurückgekehrt, drohte die wahre Bestimmung des Feriendorfs aufzufliegen. Die Agenten flohen, wie sie die Flüchtlinge evakuiert hatten: mit einem Flugzeug, das sie mitten in der Wüste abholte. Schon lange hatte der Mossad andere Operationen angeschoben, mit denen mehrere Tausend äthiopische Juden evakuiert wurden. Heute leben inklusive der dort geborenen Nachkommen 125 000 von ihnen in Israel. Vor allem viele aus der zweiten Generation schafften den Aufstieg, teils durch den Dienst in der Armee, teils durch ein Studium - im Israel von heute sind Beta Israel in der Politik, im diplomatischen Korps, in der Kultur- und Musikszene vertreten.

Ein rein positives Fazit möchte Gad Shimron trotzdem nicht ziehen. Schon die Reise mit Transportfliegern war für viele Beta Israel eine traumatische Erfahrung - viele hatten bis dahin in "biblischen Zeiten" gelebt, wie Shimron es ausdrückt. Angekommen im Heiligen Land wurde der Kulturschock noch größer, das "goldene Jerusalem" war nicht das, von dem sie geträumt hatten. Und auch nicht alle Israelis waren bereit, Äthiopier als Mitbürger zu akzeptieren. Natürlich habe auch Israel ein Rassismusproblem, sagt Shimron. "Das macht mich so etwas von wütend. Da nimmt der Staat diesen riesigen Aufwand und immense Risiken auf sich, um diese Leute ins Land zu holen - und macht dann bei der Integration alles falsch, was man nur falsch machen kann."

Soziale Probleme halten bis heute an. Noch immer ist die Arbeitslosigkeit unter den Beta Israel immens, noch immer werden sie schlechter bezahlt als andere Israelis, noch immer werden sie öfter Opfer von Polizeigewalt - was Anfang Juli zu wütenden Straßenprotesten in mehreren israelischen Städten führte. Vielleicht ist es mit märchenhaften Erfolgsgeschichten ähnlich wie mit Tourismusbroschüren: Die meisten sind nicht uneingeschränkt wahr.

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Quelle:
SZ vom 24.08.2019
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