Süddeutsche Zeitung

Hell's Kitchen (XCII):Ameisen

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Unser Kolumnist in New York erhält einen Anruf von seinem alten Freund W. und weiß sofort, dass er für das Gespräch etwas mehr Zeit einplanen muss. W. hat endlich sein Buch beendet - und wie die Wahl in den USA ausgehen wird, das weiß er auch.

Von Christian Zaschke

Normalerweise bereite ich mich vor, wenn ich weiß, dass W. anrufen wird, weil das Gespräch immer ungefähr so lange dauert wie die Durchquerung Australiens in einem Ford Falcon. Das ist der mit Lenkradschaltung und den drei Sitzen vorne. W. hat diese Durchquerung 1991 erledigt. Ich stelle Antipasti auf den Tisch und öffne einen der besseren Weine. Dann höre ich zu.

Als er in dieser Woche auf dem Bürotelefon durchklingelte (keine Ahnung, woher er die Nummer hat), überraschte er mich. Ich war mit den Vorbereitungen auf die Wahl beschäftigt, ich hatte wirklich keine Zeit. Ich nahm den Hörer von der Gabel und sagte: "Ja?"

"W. hier", sagte W.

W. ist von Indien in der Bahn, im Bus und in der Rikscha nach Nepal gereist und hat dort die Annapurna bestiegen. Er hat ein Studium der Landwirtschaft zu Ende gebracht, ohne dass der leiseste Wunsch in ihm wohnte, jemals Landwirt zu werden. Er hat eine fantastische Frau geheiratet und mit dieser vier prächtige Kinder in die Welt gesetzt. Gearbeitet hat er mal hier, mal dort, und wenn es ihm nicht mehr taugte, ist er gegangen. W. ist ein Mann von Wissen und Konsequenz. Zuletzt arbeitete er im Supermarkt eines Campingplatzes an der Ostseeküste.

"Es ist fertig", sagte W.

"Was?", fragte ich.

Vom Ergebnis des Endspiels der Fußball-WM 2002 erfuhr W. in der mongolischen Steppe, die er gerade in der Transsibirischen Eisenbahn durchquerte. Das 7:1 der deutschen Fußballer gegen Brasilien bei der WM 2014 schaute er sich in einer Favela in Rio an. Nach Spielende brachten ihn die Brasilianer mit einer Deutschlandfahne zurück zu seiner bescheidenen Bleibe und sangen: "So ein Tag, so wunderschön wie heute." Das hatte er ihnen vorher beigebracht.

"Das Buch", sagte W.

"Ah", sagte ich.

Einmal fuhr ich mit W. im Wohnmobil durch den schwedischen Winter. Ein anderes Mal durch den irischen Frühling. Ich kann mich nicht daran erinnern, auf diesen Reisen nach der Begrüßung ("Moin") noch etwas gesagt zu haben. W. erzählte auf diesen Fahrten aus seinem Leben. Er ist der beste Geschichtenerzähler, den ich kenne.

Sein Vater war Käferforscher, dessen Leidenschaft heimlich den Ameisen galt. Von diesem Vater hat W. nichts geerbt außer einem VW-Bus (T3) und der Liebe zu den Ameisen. Vor 30 Jahren beschloss er, dass er ein Buch schreiben würde, in dem Ameisen die Hauptrolle spielen. Es ging nicht recht voran. Doch W. ist ein Mann von Wissen und Konsequenz.

"Willst du kurz die Story hören?", fragte W.

Ich hatte wirklich keine Zeit.

"Nein", sagte ich.

"Okay", sagte W., "soll ich dir stattdessen sagen, wer diese Präsidentschaftswahl gewinnen wird?"

Ich hörte zu.

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Quelle:
SZ vom 07.11.2020
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