Süddeutsche Zeitung

Hell's Kitchen (LVI):Menschenverstand

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Unser Kolumnist grübelt noch immer über seinen gut gemeinten Ausflug in die Wohnung seiner Nachbarn. Immerhin war er mit einem Messer bewaffnet.

Von Christian Zaschke

Wenn meine Nachbarn die Bilder der Überwachungskamera anschauten, die sie in ihrer Wohnung installiert haben, dann sähen sie, wie ich mit gezücktem Messer durch ihren Flur laufe. Ist eine längere Geschichte, auf die ich jetzt nicht im Detail eingehen will. Nur so viel: Meine Nachbarn waren länger weg, und ich habe da nach dem Rechten gesehen, weil unserem Hausmeister Giovanni Colon der Weg rauf in den 17. Stock mal wieder zu weit war.

Ich bin wirklich nicht der Kontrolltyp, aber die Nachbarn hatten sich nicht bei mir abgemeldet und die Tür einen Spalt offen stehen lassen. Daher hatte ich die Wohnung gründlich inspiziert und dabei mehr über meine Nachbarn erfahren, als ich wollte. Anschließend hatte ich die Wohnung wieder verlassen und die Tür geschlossen.

Weder Giovanni noch den Nachbarn gegenüber erwähnte ich, dass ich in der Wohnung war. Warum auch? Ich bin sicher, sowohl Giovanni als auch die Nachbarn können auf die Information verzichten, dass ich im Schlafzimmer hinten links sah, dass ... ach, ich bin sicher, ganz Hell's Kitchen kann auf diese Information verzichten.

Manchmal ist es am besten, so zu tun, als wäre nichts. Ich würde sogar behaupten, dass das die vierte große Regel des Lebens ist: Wasser ist nass, der Himmel ist blau, Frauen haben Geheimnisse, manchmal ist es am besten, so zu tun, als wäre nichts.

Damit könnte die Angelegenheit erledigt sein, wenn da nicht diese verdammte Überwachungskamera im Flur hinge. Ich wünschte, ich hätte sie nicht gesehen. Aber ich habe sie gesehen, und seither nagt in mir der Gedanke, dass die Nachbarn die Bilder anschauen und sagen: Ah, der Kontroll-Typ von gegenüber war in unserer Wohnung. Mit einem Messer.

Mein gesunder Menschenverstand vertritt die Ansicht, dass sich niemand die Bilder einer Überwachungskamera anschaut, wenn nichts passiert ist.

"Lieber Christian", sagte mein gesunder Menschenverstand, "sei unbesorgt, da sind die Aufzeichnungen von drei Wochen drauf, das schauen die nie an."

"Vielleicht hast du recht", sagte ich.

Ich aß einen Apfel und dachte nach.

"Außer vielleicht", sagte ich, immer noch kauend, "die Kamera hat einen Bewegungsmelder, und der springt nur an, wenn jemand in der Wohnung ist."

"Kann ich mir kaum vorstellen", brummte mein gesunder Menschenverstand.

"Du kannst dir leider vieles nicht vorstellen", sagte ich.

Kürzlich stieg der Super Bowl, das Endspiel im American Football. Meine Nachbarn schmissen zu diesem Anlass eine Party. Durch den Türspion sah ich, dass gut zwei Dutzend Gäste den Aufzügen entstiegen und in die Wohnung strebten, bewehrt mit Getränken, und mein gesunder Menschenverstand wiederholt seither mantrahaft, dass es überhaupt nichts zu bedeuten habe, dass ich nicht eingeladen war.

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Quelle:
SZ vom 15.02.2020
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