Süddeutsche Zeitung

Hell's Kitchen (LIII):Poker

Lesezeit: 2 min

Unser Kolumnist hat sich todesmutig entschlossen, in der Wohnung seiner Nachbarn nach dem Rechten zu sehen.

Von Christian Zaschke

Ich hatte die Wohnungstür der Nachbarn aufgestoßen, ich hatte einen Schritt hinein gewagt, nun stand ich da. Ich lauschte. Wer noch nie unbefugt eine fremde Wohnung betreten hat, ahnt nicht, wie viele Geräusche man dort hört. Aus der Küche, gleich vorne links, hörte ich ein Brizzen, das in regelmäßigen Abständen erklang. Brizz. Brizz. Ungefährlich, sagte mein Unterbewusstsein. Die Heizung knackte. Egal, das kannte ich, meine Heizung knackt so laut, dass ich nachts davon aufwache. Aus dem Wohnzimmer hörte ich ein Schriffeln, das war der Regen, der über die Fensterfront strich. Außerdem hörte ich meinen Atem.

Ich versicherte mich des frisch geschärften Haiku Kurouchi in meinem Gewand, das ich sicherheitshalber eingesteckt hatte. "Hallo!", rief ich in die Wohnung. Keine Antwort. Ich tat einen zweiten Schritt und blickte nach links in die Küche.

Hier oben, im 17. Stock, gibt es nur zwei Wohnungen. Eine bewohne ich, die andere bewohnte jahrzehntelang James McManus, der als einer der letzten Bosse der irischen Mafia galt. James und ich tranken manchmal Whiskey auf seinem Balkon, Jameson ohne Eis, er gab mir Ratschläge fürs Leben, die ich allesamt nicht befolgte. Nachdem James gestorben war, zogen vier Menschen Mitte zwanzig in die Wohnung, zwei Frauen und zwei Männer, nennen wir sie P., F., E. und G.

Die ebenso schlaue wie mysteriöse P. und F., der sich größtenteils von Filterkaffee ernährt, sind ein Paar, während E. und G., soweit ich das überblicken kann, ihre Sexualpartner wöchentlich wechseln. Es sind erfreuliche Nachbarn, nicht zuletzt, weil sie mich regelmäßig zum Pokern einladen, obwohl sie miserabel pokern. Immer gibt es zu diesen Anlässen Nudeln, und immer sieht die Küche schon vor dem Kochen so aus, als wäre ein Topf Tomatensauce explodiert.

"Hier ist Christian", rief ich, "ich komme jetzt rein." Keine Antwort.

Wenige Tage zuvor, als ich den Nachbarn einige Briefe auf die Fußmatte legte, die scheinbar versehentlich in meinem Briefkasten gelandet waren, hatte ich bemerkt, dass die Wohnungstür einen Spalt offen stand. Selbstverständlich hatte ich erkannt, dass es sich um den Trick eines Serienkillers handelte, der mich in die Wohnung locken wollte. Nicht mit mir, Freundchen Serienkiller. Ich zähle sicherlich nicht zu den hellsten Kerzen auf der Torte, aber einen billigen Serienkiller-Trick erkenne ich dann doch noch.

Dass ich nun dennoch in der fremden Wohnung stand, heißt nicht, dass ich den Trick nicht durchschaut hätte. Aber irgendjemand musste ja mal nachsehen. Ich tat zwei Schritte nach vorn und spähte nach rechts ins Wohnzimmer. In diesem Moment kam in meinem Hirn eine Botschaft an. Ich tat zwei vorsichtige Schritte zurück und blickte erneut nach links in die Küche. Sie war blitzblank aufgeräumt.

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Quelle:
SZ vom 25.01.2020
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