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Gewissensentscheidungen in Bergnot:Wenn das Seil gekappt wird

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Es ist der bitterste Pragmatismus am Berg: Der Bergsteiger darf und muss sich retten, wenn ein Ausharren bei dem verunglückten Kameraden höchstwahrscheinlich den Tod beider bedeuten würde.

Tanja Rest

An der Westflanke des Siula Grande in den peruanischen Anden stemmte 1985 der britische Bergsteiger Simon Yates die Füße in den Schnee und versuchte aus Leibeskräften, das Seil festzuhalten. 30 Meter unter ihm lief es über eine Felsklippe und verschwand im Nichts.

Am anderen Ende, über dem Abgrund, hing Joe Simpson. Er hatte sich beim Abstieg erst das Bein gebrochen und war dann ins Leere gestürzt - nach menschlichem Ermessen gab es keine Rettung mehr für ihn. Eine Stunde lang hielt der verzweifelte Yates die Rettungsleine, die seinen Freund mit ihm verband, und von dieser Last wurde er selbst mehr und mehr nach unten gezogen. Schließlich nahm er ein Messer und kappte die Verbindung.

Es ist der bitterste Pragmatismus am Berg: Der Bergsteiger darf und muss die eigene Haut retten, wenn ein Ausharren bei dem verunglückten Kameraden höchstwahrscheinlich den Tod beider bedeuten würde. Es ist eine Gewissensentscheidung, die oft unter den furchtbarsten Bedingungen getroffen werden muss - unter dem Einfluss großer Höhe, bei schlechtem Wetter, gewaltiger körperlicher und mentaler Erschöpfung, in aller Einsamkeit.

Und es ist meist eine Entscheidung ohne Zeugen. Es ist der Überlebende, der später Zeugnis ablegen muss. Er muss den Hinterbliebenen in die Augen sehen und ihnen sagen, dass er keine Wahl hatte. Er muss vor allem aber auch sich selbst verzeihen.

Der zum Tode verurteilte Simpson war damals in eine Gletscherspalte gestürzt und schaffte es in einem tagelangen Gewaltakt des Willens, sich selbst zu retten. Yates, der das Seil kappte, ist seine Schuldgefühle dennoch nie ganz losgeworden.

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SZ vom 21.07.2008/aho
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