Süddeutsche Zeitung

Familienratgeber:Wenn Erziehungsexperten nicht mehr weiterwissen

Lesezeit: 7 min

Wie man Kinder am besten erzieht, kann man in Ratgebern nachlesen. Dabei hatten viele Autoren einst selbst Probleme mit ihrem Nachwuchs.

Protokolle von Silke Stuck

"Mich quälte das Gewissen"

"Eigentlich ist meine Mutter die wahre Erziehungsspezialistin in der Familie. Deswegen rief ich sie auch an, als ich vor ein paar Jahren nicht weiter wusste: Wir zogen in ein Dorf und wohnten während des Hausbaus in einer kleinen Wohnung. Jeden Tag, wenn mein Mann von der Arbeit kam, ließ ich ihn mit unserem Sohn, damals vier, allein und fuhr in unser Haus, um Gipsplatten an die Wand zu nageln. Wir schliefen kaum, arbeiteten in Schichten und waren irgendwann so kaputt, dass mich die normalen Fragen und Bedürfnisse unseres Sohnes zum Platzen brachten.

Ich war nur gereizt und wollte lieber Wände verputzen, als mit ihm Memory spielen. Wenn ich dann am Haus arbeitete, quälte mich ein schlechtes Gewissen, dass ich nicht für ihn da war. Ich war in etwas hineingeraten, aus dem ich allein nicht mehr herauskam. Ich bat meine Mutter um Rat, sie sagte nur: 'Schau ihn dir an, schau ihn dir einfach mal an.' Also habe ich mir unseren Sohn angesehen. Und mir wurde auf einmal klar: Er braucht uns, nicht das perfekte Haus.

Er fühlte sich genauso fremd wie wir an dem neuen Ort, er vermisste die alte Wohnung und seine alten Freunde. Und er konnte für die Situation nicht mal was, unter der er jetzt litt. Mir hat der Satz meiner Mutter total dabei geholfen, meine verengte Perspektive wieder aufzugeben und nicht mehr das furchtbar leidende Opfer zu sein. Wie die Stimmung in der Familie ist, hat ja auch viel damit zu tun, welche Prioritäten man gerade setzt.

Konflikte entstehen, wenn man selbst nicht in der Lage ist, seine eigenen Grenzen zu formulieren. In den meisten Fällen können Kinder wirklich wenig dafür, dass wir angestrengt sind. Mir wurde klar, dass ich dafür verantwortlich war, neue Kontakte für uns aufzubauen und dadurch ein Umfeld zu schaffen, damit wir wieder ein Zuhause haben. Ich lernte, um Hilfe zu bitten und sie dann auch anzunehmen. Und für meinen Sohn da zu sein. Mehr als für irgendwelche Rigips-Wände."

Julia Dibbern, 45, ist Ratgeber-Autorin mit Schwerpunkt "Kinder und Geborgenheit". Ihr neues Buch "Slow Family" (zusammen mit Nicola Schmidt) ist im Beltz-Verlag erschienen. Sie hat ein Kind.

"Ich bin mit 27 Jahren Vater geworden, also ziemlich früh. Meine Frau war vier Jahre jünger als ich, wir beide studierten noch und lebten in anderthalb Zimmern wie in einer WG. Ich hatte gerade mein Praktikum in der Kinderheilkunde angefangen, da kam Simon. Ich war von Anfang an der festen Überzeugung, dass das Baby in seinem eigenen Bett schlafen sollte. Nicht, damit er besser schläft oder so; ich konnte das eigentlich nicht besonders gut begründen oder habe es groß hinterfragt.

Ich glaube, dahinter stand bei mir eher: Wir brauchen Raum für uns. Ich dachte, das sei gut und richtig. Eine Haltung ausgerechnet von dem Renz-Polster, der heute Vorträge über die Nähebedürftigkeit des Kindes hält. Ich glaube, meine Frau hat mich damals für völlig bescheuert gehalten, denn es wurde ein totaler Krampf. Natürlich wachte sie ständig an Simons Bett, schließlich ging es ihm nur darum, dass seine Bedürfnisse am besten befriedigt werden. Sie schläferte ihn ein, las dabei viele Bücher, während ich in "unserem" Raum saß.

Es war alles andere als ein gutes Ineinanderfließen, das man sich als junge Eltern so wünscht. Überraschend finde ich im Nachhinein, wie wenig wir das damals als Problem thematisiert haben. Wir zogen es einfach durch. Nach einem Jahr wurde es besser, wir reisten durch die Welt und haben viel gezeltet - da war nicht mehr viel mit dem sagenumwobenen eigenen Raum. Vielleicht hat mir unser Leben auf Reisen einiges deutlich gemacht, ganz bestimmt hat sich bei unserem zweiten Kind aber meine Frau durchgesetzt. Sie hatte immer eine klare Intuition, wie man mit Kindern umgeht.

Bei mir war da am Anfang keine Sicherheit, was war ich rigide! Ab dem zweiten Kind waren ohnehin alle bei uns im Bett. Und zwar so lange, bis sie von sich aus aus unserem Schlafzimmer ausgezogen sind. Unsere Kinder hatten nie ein eigenes Zimmer. Sie suchten sich ihr Nest da, wo sie sich sicher und geborgen fühlten. Anfangs bei uns, später beieinander."

Herbert Renz-Polster, 56, ist Kinderarzt und Autor von Ratgebern wie "Kinder verstehen - wie die Evolution unsere Kinder prägt" (Kösel-Verlag). Er hat vier Kinder.

"Unser jüngstes Kind Andrea hat einfach nicht geschlafen. Als sie ein halbes Jahr alt war, habe ich sie nachts bis zu sieben Mal gestillt. Tagsüber schlief sie kaum oder gar nicht. Das hat mich damals stark belastet, ich hatte ja noch zwei größere Kinder. Aber ich dachte absurderweise, dass das mein Schicksal sei. Ich war beinahe stolz auf meine Selbstaufopferung: Je mehr ich leiste als Mutter, umso toller muss ich doch sein, sagte ich mir.

Aber mir schwanden die Kräfte. Die Leute sagten: 'Lass sie doch mal schreien.' 'Vielleicht ist mit deiner Milch was nicht in Ordnung.' 'Gib ihr mal was Festes zu essen.' Ich hab nichts davon ausprobiert, aber ich hab leider auch alles getan, was meine Tochter wollte. Erst unser Kinderarzt hat mir damals die entscheidende Frage gestellt: 'Wollen Sie was ändern?' Und damit meinte er, ob ich es wirklich wollte. Der Arzt versorgte mich dann mit Literatur zur Schlafmedizin.

Zu dieser Zeit wusste ich noch nicht, dass nächtliche Wachphasen bei Kindern völlig normal sind und dass das Wieder-Einschlafen an Gewohnheiten gekoppelt ist. Mir wurde klar: Ich habe Andrea damals die Erfahrung vorenthalten, dass sie es alleine schaffen kann zu schlafen. Ich hatte ihr diese merkwürdigen Schlafgewohnheiten beigebracht. Bald kam das erste feste Tagesschläfchen. Ohne Kinderwagenrennerei! Ohne Danebenliegen! Wenige Tage später schlief Andrea fast drei Stunden mehr am Tag. Sicher, zu Beginn war es einschränkend. Ich habe einen festen Rhythmus etabliert, musste dadurch auf spontane Aktionen mit meinen älteren Kindern verzichten. Das war es mir wert.

Als ich mich kürzlich mit meiner Enkeltochter beobachtete, musste ich sehr lachen: Ich schaukelte sie ewig auf dem Hüpfball, bis sie aufhörte zu weinen - und endlich einschlief. Mittlerweile findet sie allein in den Schlaf. Letztlich haben die Erfahrungen mit Andrea zu meinem ersten Buch geführt. Und ausgerechnet sie wird wohl in ein paar Jahren meine Praxis übernehmen."

Annette Kast-Zahn, 60, ist Psychologin. Ihr Klassiker "Jedes Kind kann schlafen lernen" erschien 1995 in Zusammenarbeit mit ihrem damaligen Kinderarzt Hartmut Morgenroth. Sie hat drei Kinder.

"Meine Frau und ich waren gerade in der Ostsee segeln, als unser Sohn Sebastian, damals 17 Jahre alt, durch einen Lichtschacht etwa sechs Meter in die Tiefe fiel. Der Junge hatte nichts Besseres zu tun, als eine Party auf einem Supermarktdach zu feiern. Er wäre fast gestorben. Als wir auf See angefunkt wurden, drehten wir sofort bei, und ich telefonierte die ganze Zeit mit dem behandelnden Arzt.

Sebastian hatte eine lebensgefährliche Lungenverletzung, und es war eine Zeit lang nicht klar, ob er überleben würde. Immerhin hat sein Freund damals gut reagiert und sofort Hilfe gerufen. Dadurch ist die ganze Sache einigermaßen glimpflich ausgegangen. Auf der langen Reise zurück ist bei mir viel an Ärger und Wut verraucht, ich habe stattdessen an das Neue Testament gedacht, an das Gleichnis vom verlorenen Sohn, in dem der Vater ihn erst fortjagt und dann in seine Arme schließt.

So wollte ich das auch tun. Das Kind annehmen wie es ist, mit dem ganzen Mist, den er gebaut hatte. Am Ende war uns ohnehin nur wichtig, dass er lebendig ist und gesund. Alles andere war egal. Auch das, was die Leute sagen könnten. Ich bin ja kein Guru. Wenn ich Eltern Fehler zugestehe, dann muss ich das bei mir erst recht tun. Und wenn wir ehrlich zu uns selbst sind, scheitert man als Vater oder Mutter doch die ganze Zeit.

Mir hat damals geholfen, dass ich mir immer gesagt habe: Kinder ticken einfach nicht richtig in der Pubertät. Denn diese Aktion auf dem Supermarktdach war nicht gegen uns als Eltern gerichtet. Ich habe schließlich ganz ruhig und gelassen bei einem guten Essen mit unserem Sohn über das Geschehene gesprochen. Das ist sowieso besser, als sofort unter dem Eindruck des Ereignisses zu reagieren. Vielleicht hat mir mein Sohn damals auch eine wichtige Lektion erteilt: Es bringt nicht viel, lange nach dem Warum zu fragen. Manchmal gibt es einen Crash. Dann ist man vielleicht gescheitert. Vielleicht auch nicht. Wichtiger ist dann aber zu gucken, wie man damit umgeht."

Jan-Uwe Rogge, 69, ist Familien- und Erziehungsberater und Autor u. a. von "Warum Raben die besseren Eltern sind" (GU-Verlag). Er hat einen Sohn.

"Meine drei Söhne sind mittlerweile erwachsen, aber sie essen immer noch nicht so, wie ich es mir wünschen würde: zu viel Fleisch und zu wenig Gemüse oder Vollkornprodukte. Unseren Jüngsten habe ich mal in seiner WG besucht. Als ich den Kühlschrank aufmachte, musste ich schlucken: Butter, Käse, Wurst, Senf, Ketchup, drei Tomaten. Ich durfte ihm eine Lieferkiste mit Bio-Gemüse abonnieren, so begann er tatsächlich zu kochen und aß öfter was Gesundes.

Als unsere Kinder klein waren, habe ich sie monoton ernährt. Damals hieß es, das sei im ersten Lebensjahr die beste Allergieprophylaxe, und Heuschnupfen war ein Problem in unserer Familie. Also gab es Kartoffel- und Karottenbrei bis zum Umfallen. Sie hatten dadurch einen ziemlich konservativen Geschmack: nur nackte Nudeln und Cornflakes. Nie durfte etwas gemischt werden, sonst gab es Geschrei.

Beim Ältesten führte das zum schlimmsten Moment der Erkenntnis, als er ungefähr drei Jahre alt war. Er saß vor seinem Teller und fragte: 'Mama, ist das allergisch?' Danach dachte ich: Schluss. Dein armes Kind ist schon so weit, dass es Essen als etwas Verdächtiges wahrnimmt. Mir wurde klar, dass ich aus der Ernährung nicht mehr so ein Thema machen durfte. Essen mit Kindern ist trotzdem ein Scharmützel.

Mit dem zweiten Sohn gab es mal einen Eklat, als wir bei Freunden zum Essen eingeladen waren. Es gab Zitronenpudding zum Nachtisch, aber er weigerte sich hartnäckig, davon zu probieren, obwohl das eine meiner eisernen Regeln war. Ich redete ihm zu, bat ihn, ermahnte ihn, schimpfte ihn, erpresste ihn - keine Chance. Mir war es furchtbar unangenehm vor den Gastgebern.

Die Ernährung von Kindern kann einem Kraft und Geduld rauben, aber ich habe nie aufgegeben. Dennoch gab es manchmal Spaghetti Bolognese oder Bratwurst mit Bratkartoffeln - einfach, um für gute Stimmung zu sorgen. Bis heute. Ich frage meine Söhne immer erst, was sie essen möchten, wenn sie heimkommen. Und dann erst, wie es ihnen geht."

Dagmar von Cramm, 61, ist Ernährungsexpertin und Autorin, etwa von "Lieblingsrezepte für Kinder" (GU-Verlag). Sie hat drei Söhne.

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Quelle:
SZ vom 12.11.2016
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