Süddeutsche Zeitung

Familie & Partnerschaft:Wovor habt ihr Angst?

Lesezeit: 7 min

Natalie Dedreux hat das Downsyndrom. Sie kämpft gegen den Bluttest auf Trisomie 21 und gegen die Furcht der Mütter vor einem Kind, wie sie selbst eines ist.

Von Nina von Hardenberg

In der Stadt der Zukunft wird es 200 Wasserstoffautos geben, aber nur einen Polizisten. Tausende Einhörner laufen dort herum und niemand muss arbeiten, so malen sich die Darsteller des Theaterprojekts Youtopia die perfekte Welt aus. Bei einer Probe im dritten Stock eines Kölner Hinterhauses rufen die Schauspieler ihre Ideen in den Raum. "Nullkommanull Gramm CO₂-Emissionen", sagt Mel. "26 Fußballplätze", fordert Mohamed. Dann ist Natalie Dedreux an der Reihe. Sie breitet die Arme aus, als wolle sie die Welt umarmen. "Eine Frau, die berühmt ist", sagt sie. "Das bin ich."

Die Welt von morgen soll also einen Platz für sie bereithalten, wünscht sich Natalie Dedreux, 20 Jahre, Downsyndrom, "cool drauf ", wie sie selbst findet, und ein bisschen berühmt, seit sie Angela Merkel 2017 bei einem Wahlkampfauftritt gefragt hat, wie sie zu Spätabtreibungen stehe.

Bei dem Theaterstück spielen Laienschauspieler und Profis zusammen. Natalie Dedreux steht neben Bühnenstars, die sich eine Stadt ohne Mauern ausmalen, und geflüchteten Irakern, die düster von zerstörten Häusern sprechen. Sie selbst strahlt, als sie ihren Wunsch vorbringt. Es ist ein bescheidener Wunsch, könnte man meinen, und doch kein selbstverständlicher. Sie weiß das. Im Herbst soll sich entscheiden, ob die Krankenkassen bei Risikoschwangerschaften Frauen einen Bluttest zahlen, mit dem sie einfacher als bisher herausfinden können, ob der Fötus in ihrem Bauch das Downsyndrom hat. Ein Test also, der de facto häufig verhindert, dass Menschen mit Natalies Dedreuxs Genvariante geboren werden.

Es gibt keine deutschlandweite Statistik, wie viele Schwangere sich nach einer Trisomie-21-Diagnose gegen das Kind entscheiden. Rechtlich werden diese Abbrüche mit der seelischen Notlage der Frau begründet, die Diagnose des Kindes wird aus ethischen Gründen nicht vermerkt. Sicher ist, dass es viele sind. Analysen des Geburtenregisters der Universität Mainz aus den Jahren 1990 bis 2014, in denen man jährlich etwa 3000 lebend geborene Kinder, Fehlgeburten und Aborte untersucht hat, ergaben, dass ungefähr jede dritte Trisomie-21-Schwangerschaft abgebrochen wurde. Im zweiten deutschen Fehlbildungsregister in Sachsen-Anhalt waren es 60 Prozent. Europäische Nachbarstaaten wie Frankreich geben 75 Prozent und mehr an.

Natalie Dedreux kennt diese Zahlen, und sie nimmt sie persönlich. "Ich will nicht abgetrieben werden, sondern auf der Welt bleiben", erklärte sie der Bundeskanzlerin damals bei der Wahlkampfveranstaltung. Merkel lobte ihren Mut, sich zu Wort zu melden. Sie sei ein wichtiges Beispiel für all die Eltern, die vielleicht Angst hätten, dass ein behindertes Kind ihnen viele Schwierigkeiten machen könnte. Natalie Dedreux hört damals nur das Wort Angst. "Die sollen keine Angst vor uns haben", sagt sie seither jedem, der es hören will. Sie schreibt es auch in einer Online-Petition gegen den Bluttest, die inzwischen mehr als 22 500 Unterzeichner hat und die sie noch ein bisschen berühmter gemacht hat.

Am Vormittag in Köln kommt einem Natalie Dedreux mit freudig rudernden Armen entgegen, wenn man sie von ihrem Ausbildungsplatz in einem Café der Caritas abholt. Am Vortag erst war ein Kamerateam hier, jetzt die Zeitung. Ihr scheint so viel Trubel gerade recht zu sein. Sie lotst die Reporterin in den Aufzug und aus dem Gebäude raus zur nächsten Bushaltestelle, und schon auf dem Weg fängt sie an zu erzählen: "Die wollen uns aussortieren." Und: "Wovor haben die Angst?"

Angst, so viel ist sicher, spielt eine Rolle in der Debatte um den seit 2012 zugelassenen nichtinvasiven Pränataltest (NIPT), der im Blut der Schwangeren schon von der zehnten Schwangerschaftswoche an Teile des kindlichen Erbguts nachweisen kann. Es ist nicht die erste Untersuchung dieser Art. Schon seit Jahren können Frauen sich in der Frühschwangerschaft anhand von Ultraschallbildern und Hormonwerten die Wahrscheinlichkeit für eine Trisomie errechnen lassen. Eine Fruchtwasseruntersuchung kann Gewissheit bringen. Und trotzdem weckt der neue Test neue Ängste. Da ist die Angst vor "einer Selektierung menschlichen Lebens", wie es fünf Behindertenverbände in einer Stellungnahme formuliert haben. Da ist auch die Angst der Schwangeren vor einem Kind mit einer etwas anderen Erbanlage. Natalie Dedreux setzt all dem ihr stärkstes, entwaffnendstes Argument entgegen: sich selbst. "Das Downsyndrom ist keine Krankheit. Wir haben ein Chromosom zu viel, wir haben 47 Chromosomen, ihr anderen habt 46 Chromosomen", schreibt sie auf ihrer Website.

Auf der Bank an der Bushaltestelle lässt sie die Beine baumeln. Die warme Stadtluft hüllt sie ein, aber sie zieht ihre schwarze Lederjacke nicht aus. Die Jacke gehört zu ihrem Stil, zum roten, eng anliegenden T-Shirt, zu schwarzen Jeans und Nietenstiefeln. "Finde ich einfach cool. Cool drauf sein", sagt sie. Um ihren Hals baumeln ein Schlüsselbund, ein Smartphone an einer Kordel und dicke Kopfhörer. Als der Bus nicht gleich kommt, angelt sie sich ihr Handy und ruft die Mutter an, ob sie sie nicht einsammeln könne.

"Ihr sollt mich sehen, wie ich mehr Spaß habe am Leben."

Ein cooles Leben haben, und das auch zeigen. Das ist Natalie Dedreuxs Antwort auf die Angst der anderen. Ihre Website, auf der sie sich den Titel "Expertin für Downsyndrom" gegeben hat, und auf der sie Reisefotos aus Venedig, Berlin und Kiew postet, und ihr Instagram-Auftritt sind darum buchstäblich Werbung in eigener Sache. "Ihr sollt mich sehen, wie ich mehr Spaß habe am Leben. Ich will zeigen, wie mein Leben mit Downsyndrom so ist", schreibt sie. Es folgen Fotos, die ihren politischen Kampf dokumentieren: Natalie Dedreux bei einer Demo gegen den Trisomie-Test in Berlin, Fotos mit Kanzlerin Angela Merkel und mit Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, Auftritte beim Verband Lebenshilfe, der ihr einen Preis verliehen hat, und im Haus der Geschichte, wo das Plakat zu ihrer Online-Petition als historisches Zeitdokument archiviert wird.

Sie ist nicht die einzige. Weltweit machen Menschen mit Downsyndrom darauf aufmerksam, was sie in ihrem Leben erreicht haben. Das Selbsthilfenetzwerk "The Migthy" präsentierte kürzlich von der Stadträtin Ángela Bachiller aus dem spanischen Valladolid bis zum bildschönen Model Madeline Stuart aus Australien 20 erfolgreiche Menschen mit Downsyndrom, die man kennen sollte, weil sie unseren Blick auf diese Behinderung verändern. Während früher häufig für sie gesprochen wurde, vertreten Menschen mit Downsyndrom immer öfter ihre Interessen selbst. Der Schauspieler Sebastian Urbanski sprach 2017 als erster Mensch mit Downsyndrom im Bundestag und sitzt nun im Vorstand der Lebenshilfe. Die Aktivistin Carina Kühne bloggt gegen den Bluttest, weil er "eine Suchmethode zur Selektion" sei und keine Therapie. Sie scheut sich auch nicht, eine Verbindung zur Nazizeit zu ziehen, als Menschen mit Trisomie 21 "ausgerottet" wurden.

"Natürlich müssen die Eltern selbst entscheiden", schreibt Carina Kühne. Und trotzdem summieren sich die Entscheidungen vieler Eltern zu einer gesellschaftlichen Haltung, die Menschen wie sie und Natalie Dedreux spüren.

"Der Tim ist auch schon gestorben", sagt Natalie Dedreux düster. Sie sitzt jetzt mit Mutter Michaela Dedreux im Wohnzimmer der Wohnung, die sie mit Mutter und Bruder teilt. Die Eltern leben getrennt. Auf dem Couchtisch liegt ein Artikel über das Oldenburger Baby, das dessen Eltern in den 90er-Jahren wegen der Diagnose Trisomie 21 abtreiben ließen, das aber nicht starb und stundenlang unversorgt auf der Station lag. Viele Jahre später nun ist Tim an den Folgen der Frühgeburt gestorben.

Ob sie sich selbst diskriminiert fühle? "Hat dich mal jemand blöd angeredet?", wiederholt die Mutter. Manchmal fasst sie Fragen einfacher für die Tochter oder sie führt sie vorsichtig zum Thema zurück. "Nö", sagt Natalie Dedreux. "Wir mussten uns tatsächlich selten was erkämpfen", bestätigt die Mutter. Nur ganz zu Anfang habe ein älterer Arzt sie vor einer lebenswichtigen Herzoperation gefragt, ob sie diesen Eingriff wolle, man könne das auch lassen.

Vielleicht lag es am toleranten Köln, dass sich die Dinge danach gut für Natalie fügten, mutmaßt die Mutter: von der integrativen Kindergruppe über die Schule bis hin zum Café Querbeet, wo Natalie Dedreux jetzt serviert und sich auf einen Außenarbeitsplatz vorbereitet. Das sind geförderte Stellen etwa in Jugendherbergen oder Altenheimen. Ihr Ziel ist ein anderes: "Journalistin werden", sagt sie, schon jetzt arbeitet sie beim Magazin Ohrenkuss, für das nur Menschen mit Downsyndrom schreiben.

Nicht jedes Kind mit Downsyndrom wird später Artikel schreiben, die wenigsten werden eigenes Geld verdienen. Viele arbeiten in Behindertenwerkstätten und erhalten Grundsicherung. Es gebe bei Downsyndrom eine große Bandbreite, sagt Tilman Rohrer, der am Uniklinikum des Saarlandes die Down-Syndrom-Ambulanz leitet. Von seinen 160 Patienten haben einige nie sprechen gelernt, andere sind zweisprachig. Einige können nicht laufen, andere schwimmen und spielen Klavier. Etwa die Hälfte hat Herzprobleme, die aber behandelbar sind.

Wie bei allen Kindern hängt viel von der Förderung durch die Eltern ab. Michaela Dedreux kommt zu den meisten öffentlichen Terminen der Tochter mit. "Es macht Spaß, eine so talentierte junge Frau auf ihrem Weg zu begleiten", sagt die Mutter. Und dass all das Engagement von Natalie selbst kommt. "Sie kann hartnäckig sein, wenn sie etwas will."

Am Ende werden die Krankenkassen die Kosten für den Bluttest für sogenannte Risikoschwangere wohl übernehmen, für ältere Frauen etwa, bei denen die Wahrscheinlichkeit steigt, dass das Kind das Downsyndrom hat. Diesen Frauen bezahlen die Krankenkassen schon heute die Fruchtwasseruntersuchung, bei der die Ärzte mit einer Spritze Fruchtwasser entnehmen. Die Nadel aber kann Mutter oder Kind verletzen, etwa eine von 200 dieser Untersuchungen löst eine Fehlgeburt aus. Es wird sich deshalb kaum durchhalten lassen, Frauen ein ungefährlicheres Verfahren wie den Bluttest vorzuenthalten.

Die Frage aber bleibt, ob die Frauen wissen, worüber sie wirklich entscheiden. Ob sie vorher Zeit hatten zu überlegen, wie sie zu einem Leben mit behindertem Kind stehen, und ob ihnen im Moment der Diagnose jemand beisteht. Gesetzlich sind Ärzte verpflichtet, Schwangere vor jeder Diagnostik zu informieren. Pränatalmediziner befürchten trotzdem, dass der Test in normalen Frauenarztpraxen zu beiläufig angeboten werden könnte, einfach weil er per Blutabnahme so leicht zu machen ist.

Sie will jetzt zu Hause ausziehen: "Alleine wohnen, nicht mehr bei Mutti."

Natalie Dedreuxs Mutter sagt, sie hatte bei ihrer Tochter keinen Test gemacht. Und als sie zum zweiten Mal schwanger war, hat sie im Wissen um Natalie erst recht keinen Test gemacht. Wer Menschen mit Downsyndrom kennt, fällt die Entscheidung womöglich anders.

Es ist Nachmittag geworden. Natalie Dedreux macht sich auf den Weg zur Theaterprobe, nicht ohne vorher einen Umweg über den Supermarkt zu nehmen, wo sie zielsicher ein Thunfisch-Sandwich aus der Kühltheke angelt. Alleine einkaufen, selbständig sein. Das ist ihr wichtig. Demnächst will sie ausziehen. "Alleine wohnen, nicht mehr bei Mutti."

Natalie Dedreux hat einen Freund, der ebenfalls das Downsyndrom hat und alleine lebt, bei ihm schaut drei Mal die Woche eine Betreuerin vorbei und abends der Pflegedienst. Irgendwann wollen die beiden zusammenziehen. "Wir flirten so richtig", sagt sie, als sie ihm später in der U-Bahn eine SMS schickt und kurz darauf ihr Handy brummt.

"In meiner Stadt soll ein schönes Wetter sein, wenn ich meinen Freund heirate", hat sie noch in das Skript für das Theaterstück geschrieben. "Wir wollen draußen heiraten. Danach machen wir Picknick und starke Liebe miteinander. Wir wollen auch alleine reisen, mit dem Zug in die Flitterwochen. Dafür brauchen wir unsere Ruhe." Es sind keine großen Wünsche.

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Quelle:
SZ vom 06.07.2019
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