Süddeutsche Zeitung

Geisteswissenschaften:Wo Leibniz und Lessing wirkten

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Die Herzog-August-Bibliothek in Wolfenbüttel feiert ihren 450. Geburtstag. Zum Jubiläum erzählt der Direktor ihre Geschichte.

Von Johan Schloemann

Im September des Jahres 1666 - es war das Jahr, in dem London brannte und wieder aufgebaut werden musste - starb in der deutschen Kleinstaatenprovinz ein alter, gelehrter Fürst. Herzog August zu Braunschweig-Wolfenbüttel aus dem Geschlecht der Welfen hinterließ "über 30 000 Bände mit 135 000 Schriften und über 2500 Manuskripte und damit ein Bücherhaus, das es an Größe und Bedeutung durchaus mit der Vatikanischen Bibliothek in Rom und mit der Kaiserlichen Bibliothek in Wien aufnehmen konnte".

Dies schreibt, nicht ohne Stolz, der gegenwärtige Direktor der Bibliothek, die bis heute noch dieselbe ist - und auch wieder nicht, mit inzwischen mehr als 400 000 alten Drucken, etwa einer Million Medieneinheiten, entschlossener Digitalisierung und einem internationalen Forschungszentrum vor allem zur Geschichte der Frühen Neuzeit.

Im Gründungsdokument stehen allerlei Maßregeln, mit denen das Bücherklauen verhindert werden sollte

Wolfenbüttel liegt im scheinbar glanzlosen Niedersachsen, zehn Minuten Zugfahrt vom Braunschweiger Hauptbahnhof. An diesem Dienstag wird dort der 450. Geburtstag der berühmten Bibliothek gefeiert, Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier kommt, und der Kulturwissenschaftler Ulrich Raulff, Archivdenker und früherer Marbach-Direktor, hält den Festvortrag. Zugleich wird eine Sonderausstellung zum Jubiläum eröffnet, sie heißt "Wir machen Bücher" und läuft bis zum 3. Juli.

Auf 450 Jahre kommt man, weil jener Herzog August, nach dem das Haus heißt (gerne auch erhabener lateinisch: "Bibliotheca Augusta"), auch schon einen Büchernarren unter seinen Vorgängern hatte. Herzog Julius hieß er, und am 5. April 1572 erließ dieser Fürst eine "Libereyordnung", die als Gründungsdokument gilt und zugleich allerlei Maßregeln enthält, mit denen das Bücherklauen verhindert werden sollte - in den Zeiten, als die Träger von Überlieferung und Wissen knapp und wertvoll waren, war der Diebstahl von Büchern ein viel größeres Problem als heute bei der grenzenlosen Kopierbarkeit.

Herzog August profitierte im 17. Jahrhundert vom Dreißigjährigen Krieg, die Not machte den Ankauf vieler Bücher günstiger. Er sammelte manisch, verfasste aber auch selber Bücher über das Schachspiel und über Geheimschriften. "Bibliothek", so schreibt der heutige Bibliothekar Peter Burschel, "das war nicht nur in Wolfenbüttel vor allem eines: Herrschaft. Herrschaft über das Wissen und Herrschaft mit dem Wissen, nicht zuletzt im Rahmen höfischer symbolischer Kommunikation."

Nach dem Bücher-Herzog kamen allerdings Gelehrte als Bibliothekare nach Wolfenbüttel, die weniger Macht und Repräsentation im Sinn hatten als eine universale Wissenskultur und eine liberale Aufklärung: Gottfried Wilhelm Leibniz und Gotthold Ephraim Lessing. Beide wirkten in Wolfenbüttel bis zu ihrem Lebensende, Leibniz von 1691 bis 1716, Lessing von 1770 bis 1781. Unter Leibniz entstanden neue Ordnungsprinzipien - erstmals nach Verfassernamen - und ein diese Ordnung ausdrückender Rundbau. Er wurde im 19. Jahrhundert wegen Baufälligkeit abgerissen und durch einen wilhelminischen Neubau ersetzt. Lessing wiederum schrieb in Wolfenbüttel seine Dramen "Emilia Galotti" und "Nathan der Weise" und suchte den Geist von Nützlichkeit und Fortschritt in die Magazine zu hauchen.

Löst sich nun diese ganze große Büchergeschichte nicht ohnehin in der Digitalisierung auf? Die Aufwertung historischer Bibliotheken, auch als Orte der Forschung, spricht dagegen. Ihre Auratisierung geht kulturgeschichtlich dem Internet voraus, wird aber durch dieses verstärkt. In den Sechzigerjahren des 20. Jahrhunderts hat man in Wolfenbüttel schon die alten Bücher aus den Speichern geholt und sie auf die Schauseite der Großen Halle gestellt. Es geht also in Bibliotheken nicht mehr nur um das materielle Einzelstück - so groß auch der Reiz etwa des Evangeliars Heinrichs des Löwen ist, das jetzt zum Jubiläum wieder gezeigt wird, oder der Luther-Originale. Es geht darum, in einem Zusammenhang zu stehen, der größer ist als man selbst, aber doch so handfest, dass er vor der Krise der Repräsentation zu bewahren scheint, die auch die Welt des Wissens erfasst hat.

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