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Buch von Soziologin Saskia Sassen:Der Kapitalismus hat sich brutalisiert - aber wie?

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Der afrikanische Bauer leidet genauso wie die griechische Mittelschicht - das sei Kennzeichen des neuen, ausgrenzenden Kapitalismus, findet Soziologin Saskia Sassen. Doch ihrem Postulat fehlt es an Präzision.

Buchkritik von Steffen Vogel

Saskia Sassen ist eine Theoretikerin mit besonderem Blick für große Zusammenhänge. Ihre Bücher glänzen selten mit präzisen Kategorien, aber gerade im Verzicht auf exakte Bestimmungen weiten sie oftmals den Horizont des Lesers. Mit dieser Art zu denken und zu schreiben begründete Sassen, Professorin an der renommierten Columbia University in New York, Anfang der 1990er-Jahre ihren Ruf als globale Intellektuelle.

Seinerzeit beschrieb die holländisch-amerikanische Soziologin mit dem Begriff der "Global City", wie bestimmte Städte zu Knotenpunkten der Weltwirtschaft werden. Zwar attestierten ihr Stadtsoziologen analytische Unschärfe, aber wer würde bestreiten, dass das Konzept der "Global City" eine gute Vorstellung von urbanen Ökonomien in Finanzzentren wie London vermittelt?

Doch was Sassen seinerzeit so gut gelang, missglückt in ihrem neuen Buch. Darin will die Soziologin den grundlegenden Charakter des heutigen Kapitalismus näher bestimmen. Dieser unterscheide sich qualitativ von jenem Wirtschaftssystem, das in den Nachkriegsjahrzehnten im Westen mit breitem Wohlstand einherging. Stattdessen steigen Armut und Ungleichheit in einem Maße, dass von einem "Systemwandel" gesprochen werden müsse.

Kurz: Der Kapitalismus hat sich brutalisiert und nimmt dabei eine neue Gestalt an. Diese sei jedoch erst in Ansätzen erkennbar - in den titelgebenden "Ausgrenzungen".

Worin liegt das spezifisch Neue der Ausgrenzungen?

Leider aber verzichtet Sassen darauf, diese Entwicklungen auf den Begriff zu bringen. Es gehe ihr, so die Soziologin, um die "untergründigen Verbindungen" zwischen disparaten Prozessen. Um diese sichtbar zu machen, müsse sie bewusst enttheoretisieren. Genau das erweist sich letztlich als Falle. Denn Sassen liefert zwar durchaus eine zahlengesättigte Beschreibung der globalen Ungleichheit. Sie kann aber nicht deutlich machen, worin das spezifisch Neue der von ihr beobachteten Ausgrenzungen liegt.

Statt Muster aufzudecken, subsumiert sie bloß: Ausgegrenzt werden ihr zufolge gleichermaßen afrikanische Bauern durch Landgrabbing, die griechische Mittelschicht durch Sparpolitik - und Böden durch den Einsatz von Fracking. Doch wenn ein Bauer Land und Lebensgrundlage verliert oder das Erdreich durch giftige Chemikalien belastet wird - handelt es sich dann um den gleichen Vorgang? Schon das jeweilige Subjekt dieser Ausgrenzung - Bauer und Boden - lässt sich schwer vergleichen.

Das Buch wirkt eher wie die Vorarbeit für ein neues Werk über den Gegenwartskapitalismus. Doch dessen reale Wandlung erhellt sie nicht.

Steffen Vogel ist Sozialwissenschaftler und Redakteur der "Blätter für deutsche und internationale Politik" in Berlin.

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Quelle:
SZ vom 14.03.2016
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