Süddeutsche Zeitung

"Wilde" in Schwetzingen:Trostlos, also zeitgemäß

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Todes- und Lebensängste, Blutrausch und Verzweiflung: Hèctor Parras Oper "Wilde" wurde, vom wilden Calixto Bieito inszeniert, in Schwetzingen uraufgeführt. Der Regisseur belässt es bei ein paar Blutspritzern.

Von Reinhard J. Brembeck

Die bloß angedeuteten Albträume und Katastrophen sind immer die schlimmsten, zumindest im Theater. Weil der Zuschauer dann noch Schlimmeres denkt und auf sich selbst bezieht. Aus dieser Erkenntnis heraus haben der sich derzeit als europäischer Großmeister etablierende Komponist Hèctor Parra und sein Librettist Klaus Händl, dessen Stücke längst eine feste Größe im deutschsprachigen Theater sind, eine Oper für die Schwetzinger Festspiele geschrieben, die schlicht "Wilde" heißt und in eineinhalb pausenlosen Stunden das zufällige Zusammentreffen eines seltsamen Arztes mit einer noch seltsameren Familie verhandelt. Da geht es um Todes- und Lebensängste, um Entwurzelung und Liebessehnsucht, um Bindungsängste und eine zu große menschliche Nähe. Aber explizit wird nichts ausgesprochen. Weshalb ein Grauen aus Blutrausch, Triebunterdrückung, Inzest und Verzweiflung aus jedem Moment dieser Meisterpartitur atmet. Parra schreibt betörende Melodien und abwechslungsreiche Ensembles für je drei Frauen und Männer. Er ist damit meilenweit entfernt von der nachwagnerianischen Ödnis des ewigen Textrezitierens, die bleischwer auf vielen neuen Opern lastet. Ekkehard Abele singt den Arzt als zunehmend verzweifelten Schmerzensmann, Bernhard Landauer setzt seine Countertenorkoloraturen dagegen, Vincent Lièvre-Picard ist der ruhende Pol. Mireille Lebel, Marisol Montalvo und Lini Gong kirren, locken, blutrünsteln: Besser könnten die Rollen nicht besetzt sein.

So sind die Singstimmen das tragende und schlüssig formbildende Moment des Stücks. Das Instrumentalensemble von SWR-Musikern unter dem nobel agierenden Dirigenten Peter Rundel liefert dazu lichte und zerbröckelnde Klänge, in denen sich Zuversicht und Hoffnungslosigkeit die Waage halten. Weshalb sich nie Überdruss an diesem Sittengemälde trostloser, also zeitgemäßer Existenzen einstellt. Sogar Regisseur Calixto Bieito, der für grell bluttriefende Arbeiten bekannt ist, verbeißt sich seinen Hang zum Überdeutlichen. Er belässt es bei ein paar Blutspritzern und Kopulationsandeutungen. Die ereignen sich in einem dreigeschossig roh gezimmerten Holzgerüst, das Susanne Gschwender in das kleine Schwetzinger Hoftheater gebaut hat. Der schöne Schein vergangener Tage ist längst dahin. Dennoch müssen alle derer eingedenk ihre kümmerlich schmerzerfüllte Existenz leben. Das aber gilt vermutlich nicht nur für Parras und Händls Opernmenschen, sondern für uns alle.

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Quelle:
SZ vom 26.05.2015
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