Vom Untergang Roms:Klimaflüchtlinge zu Pferde
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Instabile Grenzen, Klimawandel und drei Pandemien: Kyle Harpers beunruhigend aktuelles Bild vom Untergang des Römischen Reichs.
Von Gustav Seibt
Seuchenzüge, Naturkatastrophen, Wanderungsbewegungen, eine globale Abkühlung: Das neueste Bild vom spätrömischen Reich, das uns aus Amerika erreicht, wirkt so passgenau auf Probleme und Ängste der unmittelbaren Gegenwart geschneidert, dass jeder wissenschaftliche Instinkt rebelliert. "Fatum" heißt das Buch des Historikers Kyle Harper in deutscher Fassung: "Schicksal", als sei es ein Roman von Robert Harris.
Doch Harpers Buch ist ernste Wissenschaft, wenn auch farbig geschrieben. Der amerikanische Untertitel spricht von "Klima" und "Krankheiten" und vom Ende eines Imperiums. Die deutsche Version hat nur das Klima übrig gelassen, was zeigt, dass das Lektorat vor der Corona-Epidemie abgeschlossen war. Doch "The Fate of Rome" erschien im Original nicht nur vor Corona, sondern auch vor Greta, nämlich schon 2017.
Im Kern ist das Buch eine umweltgeschichtliche Erörterung zur Geschichte des Römischen Reichs. Das ist einerseits neu, andererseits näherliegender als vielleicht gedacht. Der beste deutsche Kenner dieser Epoche, der Völkerwanderungshistoriker Mischa Meier, hat Harpers Buch auf der Internetseite "Sehepunkte" eine einlässliche, respektvolle Besprechung gewidmet; längst gibt es Fachaufsätze in rauen Mengen dazu.
Dass die frühen Imperien und Hochkulturen immer auch Produkte großflächig koordinierter Naturbeherrschung waren, ist keine Neuigkeit. Die ersten "Staaten" der Menschheit entstanden aus den Möglichkeiten und Zwängen von Fluss- und Bewässerungsregulierungen mit ihren jahreszeitlichen Rhythmen.
Imperiale Macht konstituierte sich in ausgedehnten Umweltregimen, die feinmaschige und weitgespannte Organisation erforderten. Für China, Ägypten und das Zweistromland ist dies dem historischen Wissen seit längerer Zeit geläufig. Diese Reiche wurden der Natur abgerungen, sie nutzten und verwandelten ökologische Bedingungen. Sie waren großstädtisch und agrarisch zugleich, dabei erwirtschafteten sie Überschüsse, die arbeitsteilige Zivilisationen mit wachsenden Bevölkerungen und globalem Fernhandel ermöglichten.
Für Rom, das jüngste und ausgedehnteste der antiken Großreiche, dessen Dauer mehr als ein halbes Jahrtausend überspannt, haben solche Überlegungen allerdings bisher so gut wie keine Rolle gespielt. Rom war ein militärisch errichtetes, mit Bündnisverträgen und Bürgerrechten stabilisiertes, rechtlich erst spät vereinheitlichtes Aggregat, gesteuert von einer schmalen aristokratischen Verwaltungselite, zusammengehalten durch einen großen, aber nicht überdimensionierten Militärapparat, dessen Schlagkraft nicht zuletzt auf einem hocheffizienten Straßennetz beruhte, das rascheste Truppenverlegungen erlaubte. Am kontinentalen Rand sicherte eine befestigte Grenze das Reich.
Eine juristisch rational geordnete Militärmonarchie, wehrhaft an den Rändern, traumhaft friedlich im Inneren, gelagert um ein beruhigtes Binnenmeer, gestützt auf zwei Weltsprachen - Latein und Griechisch -, die überall verstanden wurden, geschmückt mit einem Reichsstil, dessen Säulenordnungen zwischen Palmyra in Mesopotamien bis Bath in Britannien galten. Darüber ein meist blauer Himmel, mit warmen Sommern und regenreichen milden Wintern. Eine grüne Welt also, jedenfalls dort, wo der Flottenbau noch keinen Kahlschlag erzeugt hatte.
Dieses Bild trifft zu, sagt nun Kyle Harper. Aber es zeigt nur einen, wenn auch langen vorübergehenden Zustand, nämlich die dreieinhalb Jahrhunderte von 200 vor Christus bis 150 nach Christus. Diese Epoche fiel mit dem Aufstieg und dem Höhepunkt des Römischen Reichs zusammen. Umweltgeschichtlich bezeichnet Harper sie als "das römische Klimaoptimum". Es hebt sich ab von den darauf folgenden drei Jahrhunderten der Spätantike, die von Seuchenzügen, klimatischer Instabilität, dramatischer Abkühlung, von Bevölkerungsrückgang und Migrationen gekennzeichnet waren.
Roms Ursprung in einer klimatisch milden Zwischenepoche dürfte ein Grund gewesen sein, warum seine Ökologie bisher so geringe Aufmerksamkeit fanden. Die Spätantike bietet das Kontrastbild, das die Frage überhaupt erst plausibel macht. Das Römische Klimaoptimum war eine Hintergrundbedingung, die wegen ihrer Stabilität nicht auffiel.
Diese Bedingungen änderten sich sichtbar in drei Seuchenzügen, die auf die Mitte des zweiten, des dritten und des sechsten nachchristlichen Jahrhunderts fielen. Nur beim letzten, der sogenannten Justinianischen Pest, die sich ab 541 im Mittelmeerraum verbreitete und danach zwei Jahrhunderte endemisch blieb, zeigt sich ein klares und verheerendes Krankheitsbild: Es handelte sich um die Beulenpest, die innerhalb weniger Tage zum Tode führte. Die überlieferten Berichte mit Leichenbergen und Totenschiffen gleichen denen aus Boccaccios "Decamerone".
Der Infekt verbreitete sich, getragen von den Zwischenwirten Flöhen, Ratten und Menschen vor allem zu Wasser, über die Hafenstädte. Die Pest war Begleiterin des mittelmeerischen Getreidehandels, ihre Expansion nutzte auch das immer noch intakte Straßennetz des Reichs. Und das ist eine der wichtigsten Pointen von Harpers Darstellung: Es war das Imperium selbst, das zum Biotop überregionaler Seuchenverbreitung werden konnte - abgeschottete Teilräume kannte es nicht mehr, auch da nicht, wo seine politische Herrschaft gar nicht mehr existierte wie im Westen.
Infolge dieser Erkrankung sank die Bevölkerung im sechsten Jahrhundert womöglich um die Hälfte. Damit aber wurde die Aufrechterhaltung jener Strukturen unmöglich, die der Krankheit zuvor genutzt hatten. Der bisher stabile oströmische Reichsteil geriet auch administrativ und militärisch ins Taumeln, sodass er ein Jahrhundert später leichte Beute für die islamische Eroberung wurde.
Aber es war nicht nur die Pest. Kurz vor 540 verursachten offenbar mehrere riesige Vulkanausbrüche eine nachhaltige Verfinsterung der Atmosphäre, die sich überall auf dem Globus nachweisen lässt.
Es folgten "Jahre ohne Sommer", wie Europa 1816 eines nach dem Ausbruch des Tambora erlebte, mit Regen, verlangsamtem Baumwachstum, Ernteausfällen und Hungersnöten, die die Bevölkerungen gegen Infekte schwächten. Dazu, und unabhängig davon, begann die "spätantike Eiszeit", eine durch verminderte Sonneneinstrahlung verursachte Abkühlung des Weltklimas, die das Römische Klimaoptimum endgültig beendete. Klima, Seuchen, demografischer Zusammenbruch, invasorischer Druck auf die Grenzen: Harper bringt ein beeindruckendes, sich wechselweise verstärkendes Faktorenbündel in den Blick.
Die Darstellung der Krise des sechsten Jahrhunderts ist der stärkste Teil von Harpers Buch. Hier kann er sich auf besten Evidenzen berufen, von präzise schildernder Chronistik über genetische Knochenuntersuchungen bis zu Eiskernbohrungen und Dendrochronologie. Man kann inzwischen den Pesterreger isolieren und Temperaturschwankungen nachweisen. Die Analyse des historischen Ursachengeflechts ist gestützt auf die Kombination quellenkritischer und naturwissenschaftlicher Methoden. Was die Zeitgenossen als kosmische Verfinsterung wahrnahmen, war eine menschlich nicht steuerbare Veränderung von natürlichen Bedingungen. Fatum also doch.
Die beiden vorangehenden Krisen - die Antoninische Pest im zweiten Jahrhundert und die Cyprianische Pest im dritten - zeigen weniger klare Bilder. Nicht einmal die Krankheiten sind zweifelsfrei identifizierbar, es kann sich um Influenza und Pocken, vielleicht sogar Ebola gehandelt haben. Auch dabei spielte die zivilisatorische Umgebung, vor allem die hygienischen Bedingungen in den Städten, eine große Rolle. Wer die antike Zivilisation in klassizistischem Geist für "gesund" hält, kann sich bei Harper ein ernüchterndes Gegenbild besorgen, von haarsträubender Unsauberkeit, sinnloser Medizin und einer erbärmlichen Lebenserwartung überwiegend kleinwüchsiger, schwach ernährter Bevölkerungen.
Von der Seuche des zweiten Jahrhunderts konnte das Reich sich noch einmal erholen. Doch die des dritten Jahrhunderts trug zu einem militärischen Umbau bei, der dazu führte, dass über mehrere Generationen die meisten Kaiser aus dem besonders bedrohten Donauraum auf dem Balkan rekrutiert wurden. Neue Armut zog in den Mittelmeerraum, ablesbar an verschlechterten Münzen.
Die kühnste, jedoch am schwersten zu belegende Vermutung Harpers gilt dem Anstoß der Völkerwanderung durch die Hunnen im vierten Jahrhundert. Sie trieben bekanntlich die Goten vor sich her, die dann ins Römische Reich eindrangen. Ausgelöst worden sei der Hunnensturm durch eine weltklimatisch bedingte Dürre in Zentralasien, vermutet Harper in komplexen klimahistorischen Argumentationen. Die Hunnen nennt er "Klimaflüchtlinge zu Pferde".
Das Buch verbirgt seine Thesen zuweilen in einem Übermaß von farbigen Details, emphatischen Superlativen, unter reportagehaftem, szenischem Erzählen. Doch Harper unterscheidet an jeder Stelle Fakten von Hypothesen, seine Analyse von Faktoren und Wechselwirkungen bleibt durchsichtig auch da, wo er nur Vermutungen bieten kann.
Die naturwissenschaftliche Seite dieser Forschungen dürfte in den nächsten Jahren neue Datennahrung bekommen und damit verfeinert werden. Für den gebildeten Leser stellt Harper nicht nur aufregenden Lesestoff zur Verfügung, sondern vor allem Modelle über den Zusammenhang von Natur und Zivilisation in früher, vorindustrieller Zeit.