Süddeutsche Zeitung

Virtuelle Realität:Neuland

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Virtual Reality gilt als Medium der Stunde. Doch welche Geschichten kann man mit solchen Rundumfilmen erzählen? Und vor allem wie? Eine Begegnung mit dem Regisseur Chris Milk.

Von Andrian Kreye

Das erste Problem mit der Virtual Reality, auf das der Regisseur Chris Milk allerdings sofort eine Antwort weiß, ist die Tatsache, dass man sich eine Rundumbrille anziehen muss, um solche Rundumfilme anzusehen. Damit sieht man aus wie ein Vollidiot. Und weil man außer dem Film nichts mehr sieht und in der Regel auch noch einen Kopfhörer aufgesetzt hat, benimmt man sich auch so. Das konnte man am Sonntag sehen, als Facebook-Gründer Mark Zuckerberg in Barcelona durch einen Saal voller Handyvertreter schritt, die allesamt Oculus-Rift-Brillen trugen und damit wie Maden in Sakkos wirkten.

Ein paar Tage zuvor sah das in Vancouver nicht viel besser aus. Da verteilte Chris Milk bei der Ted Conference Pappschachteln von Google, die man zu solchen Brillen falten kann. Es half auch nicht, dass der Künstler JR schwarz-weiße Augenpaare auf die Schachteln gedruckt hatte. Der Witz an Virtual-Reality-Filmen ist eben, dass man ein geschlossenes Sichtfeld in alle Richtungen hat, während Surround Sound im Kopfhörer das Raumgefühl akustisch simuliert. Weil sich dabei die viel beschworene Filterblase des Internets physisch sehr endgültig schließt, merkt man dann nicht, dass die Bewegungsmuster auf die Motorik eines Einjährigen reduziert werden.

Die Technik entwickelt einen Sog, den man bislang nur selten erlebte, wie beim ersten iPhone

Das ist also die Zukunft der Medien? Nein, sagt Chris Milk. Das sei der momentane Stand der Technik. Man müsse sich frei machen von dieser Idee, dass man Filme gemeinsam ansieht. Oder dass es in dieser virtuellen Realität darum gehen werde, lineare Spielfilmgeschichten zu erzählen. "Klar", sagt er. "Irgendjemand wird schon bald einen Virtual-Reality-Spielfilm drehen, genauso wie man früher Bücher im Radio vorgelesen oder Theaterstücke im Fernsehen gezeigt hat." Man versuche sich eben erst mal am Gewohnten. Aber das sei nur eine Übergangsphase. Milk sagt das mit dem Ton der Erfahrung. Als Werbe- und Videoregisseur für Konzerne, Pop- und Rockstars hat er in den letzten fünfzehn Jahren gemeinsam mit dem Designer Aaron Koblin immer wieder neue Technologien ausprobiert - für Arcade Fire, Johnny Cash und Beck, für Nintendo und O2.

Und nein, die Menschheit verschwinde nicht endgültig in einer Filterblase. "Wenn Sie ins Kino gehen, ist das Gemeinschaftserlebnis ja auch, dass Sie sich danach über den Film unterhalten." Man werde sich auch bald nicht mehr so ungeschickt benehmen. Alles eine Frage der Evolution.

An dieser Stelle erzählt er von den Brüdern Lumière, die 1895 den Kurzfilm "Die Ankunft eines Zuges auf dem Bahnhof in La Ciotat" drehten, der 50 Sekunden lang genau das zeigte. Und weil Film Ende des 19. Jahrhunderts eine vollkommen neue Kulturtechnik war, die vor allem auf Volksfesten gezeigt wurde, duckten sich die Zuschauer oft voller Panik unter ihre Sitze, weil sie glaubten, die Dampflok würde sie nun gleich überrollen.

In einem seiner ersten Virtual-Reality-Filme zitiert Milk die Brüder Lumière. Da betrachtet man eine Seenlandschaft, ein Zug fährt am Ufer entlang, biegt ab, rast über die Wasseroberfläche und zerstiebt in unzählige Einzelteile, aus denen sich Vogelschwärme bilden. Bei der Ted Conference ist das Filmchen der erste von sechs Ausschnitten aus den Produktionen seiner Firma VRSE, mit denen er die Zuschauer von seinem neuen Medium überzeugen will (alle Filme unter vrse.com). Er ist nämlich nicht nur der erste, sondern bisher der einzige Regisseur, der damit arbeitet (mal abgesehen von ein paar Spieledesignern und Pornofilmern, die bei neuen Medien schon immer zur Avantgarde gehörten).

Und ja, man zuckt vor der Lok zusammen. Überhaupt ist das ein beeindruckend neues Erlebnis, wenn man mit der Brille vor der Nase hin- und herwankt, weil man in Hubschrauberhöhe auf Manhattan herunterblickt, weil die Band U2 um einen herumsitzt oder weil man im Flüchtlingslager Zaatari von Kindern umringt wird. Das entwickelt einen Sog, den man so noch nicht kannte. In Zeiten zwanghafter Innovationsfluten hat man solche Erlebnisse nur noch selten. Zuletzt 2007, beim ersten iPhone.

"Das große Versprechen der Virtual Reality wurde ja schon oft gemacht", sagt Milk. "Aber jetzt ist es verwirklicht." Weil die Schwelle fürs neue Medium auf eine Gratis-App und eine Pappbrille für zwölf Euro gesenkt wurde. Weil Milk inzwischen von der New York Times, den United Nations und Rockstars Geld für Produktionen bekommt. Und weil nach den Pappbrillen im Sommer die massiven Oculus-Rift-Brillen von Facebook auf den Markt kommen.

Was es allerdings noch nicht gibt: "Inhalte. Und Formen. Eine Sprache, eine Ästhetik, die mit Virtual Reality umgehen kann." Bisher gibt es nicht einmal Kameras, mit denen man Virtual-Reality-Filme drehen kann. Milk konstruiert sie immer noch selbst. Wobei bisher vieles unmöglich bleibt, was zum Standardrepertoire der Filmsprache gehört: Schwenks und Gegenschnitte (man kann seinen Blick ja in jede Richtung lenken), Kamerafahrten (sonst wird dem Publikum übel), subjektive Kameraführung (da müsste man die Schauspieler theoretisch enthaupten). "Momentan können wir nur eine Kamera in die Mitte des Raumes stellen, die filmt, was sich um sie herum abspielt."

Geduld bräuchte man jetzt erst einmal, sagt er. "Wir sind eben immer noch auf dem Stand, dass ein Zug in den Bahnhof einfährt. Aber alle erwarten den neuen 'Citizen Kane'". Leicht werde das nicht. "Es gibt keinen Ablauf von Rechtecken, von Radiowellen oder Wörtern auf einer Seite. Das ist ein undefiniertes Format, mit dem wir noch gar nichts anfangen können. Auch weil es in Zukunft vielleicht alle Sinne anspricht, nicht nur zwei." Zeit für Geduld bleibe allerdings nicht. "Die Literatur, selbst der Film hatten viel Zeit, sich zu entwickeln. Virtual Reality kommt jetzt auf den Markt." Und zwar mit der Macht von Milliardeninvestitionen.

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Quelle:
SZ vom 24.02.2016
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