Süddeutsche Zeitung

Ukrainisches Tagebuch:"Unsere Armee soll kommen"

Lesezeit: 2 min

In der Ukraine beten wir gerade unser eigenes "Vater unser".

Von Oxana Matiychuk

"Warum stellst du uns keine Fragen?" Es ist 14.53:53 Uhr auf der großen digitalen Zeitanzeige im Xplanatorium Herrenhausen in Hannover, als die preisgekrönte Ukrainisch-Übersetzerin Claudia Dathe diesen Satz zu Ende spricht. Es ist der 24. Februar 2023, der letzte Tag der Themenwoche "Krieg in der Ukraine - Perspektiven der Wissenschaft", gefördert durch die Volkswagen-Stiftung. Und: Ein Jahrestag des Krieges, den die Mehrheit in Europa - Politik, Zivilgesellschaft, echte und vermeintliche Experten - nicht für möglich gehalten haben. Und je länger er dauert, desto mehr Beweise kommen an Tageslicht, dass er lange vorbereitet wurde und dass seine Ziele unmissverständlich waren.

Alle Ukrainerinnen und Ukrainer im Raum denken in diesem Moment vermutlich nicht so sehr an die Ziele der "Spezialoperation", sondern an ihre Folgen. Der Fragesatz ist die Schlusszeile eines Gedichtes der ukrainischen Dichterin Kateryna Kalytko, das ich auf Ukrainisch und Claudia Dathe anschließend auf Deutsch vortragen. Das Gedicht beginnt mit den Worten, die Millionen gläubige Christen täglich sagen: "Vater unser". Doch der Text in Gebetsform ist am 18. September 2022 entstanden, und obwohl er sich an Gott richtet, ist er kein Ausdruck der Hoffnung und Zuversicht.

Er ist ein Versuch, darüber zu sprechen, was sich uns in Butscha, Irpin, Isjum offenbarte, nachdem die "Befreier" sie verlassen hatten - "das Geräusch der knirschenden Wirbel, das Knacken der zerbrochenen Kniescheiben, die zerschnittenen Sehnen". Es ist ein Verlangen nach der irdischen Gerechtigkeit, nicht nach einer, die vielleicht irgendwann im Jenseits stattfinden könnte: "Unsere Armee soll kommen. Menschen in weißen Monturen sollen kommen. Internationale Rechtsanwälte sollen kommen."

Und es ist eine Bitte um die Nichtvergebung, denn wir, die wir am Leben blieben, sind bereit, mit einer Schuld weiterzuleben: "Und vergib uns nichts, auch wenn du es wolltest - weil auch wir nicht vergeben unseren Schuldigern." Vielleicht magst Du uns etwas fragen, Herr, was Du angesichts dieser zivilisatorischen Katastrophe nicht verstehst? Dir das (un)menschliche Handeln erklären lassen?

Wir wollen nicht zurück in die brüderliche Umarmung des Monsters

Ich starre auf die großen Zahlen der Digitaluhr, während der letzte Satz "Warum stellst du uns keine Fragen?" in der Stille des Raumes verhallt. Dann folgt eine Schweigeminute. Ich versuche die Tränen zurückzuhalten und verstehe an den leisen Geräuschen im Raum, dass ich damit nicht die Einzige bin.

Mir kommt ein anderer Satz in den Sinn, der eigentlich ein Buchtitel ist - von der großartigen Autorin Tanja Maljartschuk, mit der es im Rahmen der Veranstaltung eine Lesung gab: "Gleich geht die Geschichte weiter, wir atmen nur aus." Es fühlt sich tatsächlich so an, dass mit der kurzen Atempause die ganze Weltgeschichte kurz innehält, bevor sie weitergeht. Aber wenn wir in diesem Moment auf die ukrainische Geschichte zurückschauen, so setzt unser Atem aus, und ein Ausatmen ist nicht ohne Weiteres möglich.

Nicht, wenn wir an 1169 denken, als Andrej Bogoljubskij Kiew plünderte. An 1659, als Hetman Iwan Wyhowskyj mit den Krimtataren das Heer von Moskowien bei Konotop schlug. An 1708, als die Truppen des Fürsten Alexander Menschikow die Hauptstadt des Hetmans Iwan Masepa in Blut ertränkten. An 1918, als die Truppen des berühmt-berüchtigten Offiziers Michail Murawjow Kiew stürmten und 27 ukrainische Studenten massakrierten. An die ganzen Epochen in der Geschichte des russländischen Zarenreiches und der UdSSR, in der der Ukraine nur erlaubt war, in ihrer "kleinrussischen" folkloristischen Form zu existieren, und Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer, die damit nicht einverstanden waren, in Sibirien oder hinter dem Polarkreis "umerzogen" wurden.

An Hier und Jetzt, wenn buchstäblich jede Minute Menschen sterben, weil wir nicht zurück in die "brüderliche Umarmung" des größenwahnsinnigen Monsters wollen. Aber wir atmen aus und gehen zurück in unsere Realität, in der von jedem von uns abhängt, wie unsere Geschichte weitergeht.

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