Süddeutsche Zeitung

Über Lebenskunst:Eine große Runde durch die Renaissance

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Die Uffizien von Florenz und ihr Netzauftritt: Beim nächsten Besuch wird alles anders sein.

Von Thomas Steinfeld

Manche Menschen sind so robust, dass sie eine Besichtigung der Uffizien in Florenz in weniger als zwei Stunden absolvieren. Vielleicht haben sie dann einen kurzen Blick auf die "Geburt der Venus" von Botticelli, auf Raffaels "Madonna mit dem Stieglitz" oder auf Tizians "Venus von Urbino" geworfen. Hauptsächlich aber werden sie andere Menschen umrundet haben, sich durch stehen gebliebene Gruppen geschlängelt haben und durch lange Flure gehastet sein. Drei, vier Stunden dauert ein Besuch des Museums gewöhnlich, wobei es zu den Eigenheiten einer großen Runde gehört, dass die Geschwindigkeit, mit der sie zurückgelegt wird, stetig zunimmt, je weiter man aus Mittelalter und früher Renaissance in die Neuzeit vordringt. Da mag dann hängen, was will, wahrgenommen wird nur noch Caravaggios "Medusa", weil das runde Gemälde so schön schrecklich ist. Es soll allerdings auch Menschen geben, die den Flurplan lesen können und eine Abkürzung zum Ausgang finden.

Das Wasser des Arno spiegelt sich wie eh und je in den Fenstern des zweiten, quer zu den beiden Hauptgebäuden stehenden Korridors. Doch die Uffizien liegen verwaist, seit Ende Februar und voraussichtlich noch viele Wochen. Während in den Gebäuden allenfalls das Wachpersonal seine stillen Runden dreht, lassen sich das Museum und seine Werke nun mehr denn je mit Hilfe der digitalen Medien betrachten. Einige der Angebote sind nur Hinweise auf Ausstellungen, die man nicht mehr besuchen kann, so die Darbietung zur Küche des Großherzogs. Hinzu gekommen indessen ist, sinnigerweise, eine Einführung in die Bildgeschichte des "Decamerone" (erreichbar über "Uffizi Decameron"), so wie sie in den Uffizien versammelt ist.

In diesem Werk erzählt Giovanni Boccaccio um die Mitte des 14. Jahrhunderts von zehn jungen Leuten, die sich vor der Pest in Florenz in ein Landhaus in der Umgebung geflüchtet haben. Jeder Gast trägt, um die Langeweile zu vertreiben, pro Tag eine Geschichte vor, und die gesamte Veranstaltung währt zehn Tage (plus vier Tage ohne Literatur), sodass am Ende hundert Erzählungen, häufig mit erotischen Zügen, beieinander sind oder eine Enzyklopädie der damaligen Welt. Zum Auftakt der Bildserie wird der Boboli-Garten vorgestellt, im Kleid der Frühlingsblumen und als Wegweisung hinaus auf das Land. Es folgen Vincenzo Cabiancas Imagination einer ländlichen Gesellschaft in der frühen Renaissance, Andrea del Castagnos Porträts der Dichter Dante, Petrarca und Boccaccio, ein Kommentar zu einem Mosaik im Dom von Siena, das den Weg zur Tugend darstellt, und so geht es fort in bunter Reihe, manchmal unterstützt von Videos.

Eine besondere Darbietung ist das Video, in dem Eike Schmidt, der Direktor der Uffizien, das digitale Programm vorstellt, auf eine Art, die der Italiener "teutonisch" nennt und eben deshalb schätzt. Unter dem Titel "La mia sala" werden die Aufseher des Museums jeweils den Saal vorstellen, in dem sie jeden Tag viele Stunden verbringen, um darauf zu achten, dass die Besucher die Finger vom Blitzlicht lassen. Etliche von ihnen sind, wie man vermutlich merken wird, ausgebildete Kunsthistoriker, die in ihrem eigentlichen Beruf keine Anstellung fanden. Aus Anlass des neu geschaffenen Dante-Nationalfeiertags am 25. März ist eine Folge von 25 Kunstwerken zu sehen, die sich Dante und dessen Werk widmen. Eine andere Serie zeigt, aus Anlass des "Black History Month", in neunzehn Beispielen, wie sich die Bewohner des afrikanischen Kontinents in den Sammlungen der Uffizien dargestellt finden.

Die Bilder und Texte können einen Besuch der Uffizien nicht ersetzen. Sie vermitteln nur einen eingeschränkten Eindruck von der Materialität der Werke, von ihrer räumlichen Tiefe, um von Formaten und Raumordnungen nicht anzufangen. Aber sie öffnen das Museum, unabhängig von Gangart und Geschwindigkeit, und der nächste Besuch wird anders sein als alle Besuche zuvor, aus dem schlichten Grund, dass man über einige Exponate nun etwas weiß, wodurch sich die Wahrnehmung aller Exponate ändert: Sie fallen nicht mehr mit ihrer bloßen Anschauung zusammen.

Die Uffizien sind ein altes Museum. Sie wurden nicht als öffentlicher Schauraum gebaut, sondern sollten zunächst die Verwaltung des Herzogtums aufnehmen. Und als dann ein Museum daraus wurde, vollzog sich die Entwicklung noch lange in enger Bindung an das feudale Bedürfnis nach Repräsentation. Diese Geschichte ist in den Uffizien, so wie sie heute aussehen, noch enthalten: Sie stellen etwas Partikulares und etwas Universelles zugleich dar, erkennbar an den langen Korridoren, an den meist kleinen Sälen sowie, auf spektakuläre Weise, an der "Tribuna", dem Kuppelraum im Ostflügel, in dem die Werke noch wie ein einer feudalen Wunderkammer ausgestellt sind.

Die digitale Präsentation unter www.uffizi.it führt, obwohl sie für eine größtmögliche Öffentlichkeit gedacht ist, in das Partikulare zurück. Es ist nicht anders zu machen: Immer wieder geht es um das einzelne Werk, während die Gesamtheit aus dem Blick schwindet. Das gilt umso mehr, als jedes Objekt durch einen Kommentar gleichsam als Geistesbild behandelt wird: Seine Bedeutung wird erläutert, was in einem analogen, räumlich angelegten Museum allenfalls kursorisch geschieht. Das Museum verwandelt sich wieder in das "Gedächtnistheater", von dem es im 16. Jahrhundert seinen Ausgang genommen hatte: in ein Organ universeller Erkenntnis, das einem einzelnen Benutzer zur Verfügung gestellt wird.

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SZ vom 30.03.2020
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