Süddeutsche Zeitung

Kolumne: Trans Atlantik Express:Krümel unter dem Messer

Lesezeit: 5 min

Ein Gedicht, dessen Beschreibung einer weiblicher Erfahrung des Alterns mich noch immer erschreckt und fasziniert.

Gastbeitrag von Kristen Roupenian

Ich bin eine Woche zu spät dran mit dieser Kolumne, weil ich Ende Juni nach Hause gefahren bin nach Massachusetts, um meine Familie zu besuchen und nichts kulturell Wertvolles erlebt habe. Habe ich natürlich doch; ich habe nur keine Tickets für irgendwelche Aufführungen gekauft, war nicht im Theater oder im Museum. Ich habe allerdings ein Gedicht gelesen, also werde ich darüber schreiben.

Als ich 19 war ließen sich meine Eltern scheiden und verkauften das Haus, in dem ich aufgewachsen bin. Ich war zu der Zeit an der Uni und meine Mutter versuchte mich nach Hause zu zitieren, damit ich mitnehmen könnte, was ich aufheben wollte, weil es von sentimentalem Wert wäre, aber ich war zornig, schob es von mir weg und wollte nicht darüber nachdenken. Also sagte ich, sie solle wegschmeißen, was sie wolle. Das war natürlich ein Test, und wie immer, wenn man passiv-aggressiv auf die Probe stellt, wie sehr einen jemand liebt, ging er spektakulär nach hinten los.

Bücher sind die einzigen Gegenstände, zu denen ich bleibende emotionale Verbindungen habe

Aus welchem Grund auch immer sind Bücher die einzigen Gegenstände, zu denen ich bleibende emotionale Verbindungen habe, und als ich mich weigerte nach Hause zu kommen, nahm meine Mutter mich beim Wort und spendete die meisten meiner Bücher der Bücherei. Bevor sie das tat, schnappte sich mein Vater - der die Sprache passiv-aggressiver Liebesproben wohl oder übel gut versteht - ein paar beliebige Bücher aus dem Regal und rettete sie, indem er sie in den Keller des Sommerhauses unserer Familie stellte, in das er nach der Scheidung zog.

Wir haben nie darüber gesprochen, deswegen blieb sein Auswahlprinzip für mich im Dunkeln, aber ich schätze, er nahm die, die teuer aussahen und die, die nebeneinander im Regal standen, also leicht zu fassen waren. So kam es, dass so ziemlich die einzigen Bücher, die mir aus den ersten 20 Jahren meines Lebens noch bleiben, der Handapparat zu einer Hausarbeit über Psychologie und Religion ist, die ich in der Schule geschrieben habe und die Lektüre zu einem Kurs in amerikanischer Lyrik im zweiten Jahr meines Studiums.

Der Umstand, dass diese Bücher zufällig übriggeblieben sind und überhaupt keinen sentimentalen Wert für mich haben, hat sie mir im Laufe der Zeit umso wertvoller werden lassen. Sie sind wie ein Schnappschuss, der nicht gestellt ist und einen Moment ohne jedes Selbstbewusstsein zeigt. Das sind nicht die Bücher, die ausgewählt hätte, weil sie mich ausmachen, und die Notizen, die ich an den Rand geschmiert habe, sind nicht für die Nachwelt bestimmt. Joan Didion sagte bekanntlich, dass wir Notizbücher führen, damit wir jederzeit unserem früheren Selbst zunicken können. Indem man einen Aspekt seiner selbst in einem Notizbuch niederlegt, adelt man dieses Selbst schon als erinnernswert.

Dieses Selbst, das an den Rändern der Bücher im Keller meines Vaters weiterlebt, ist weder eines, das ich unbedingt bewahren noch hätte leugnen wollen. Sie hat einer Art liebevoller Nachlässigkeit wegen überlebt, diese Teenager-Version meiner selbst, als Marginalie akademischer Lektüre in einem schimmeligen Keller, und es wurde zu so etwas wie einem Ritual für mich, sie einmal im Jahr dort unten zu besuchen.

Wie können wir verhindern, dass unser Geist zerfällt?

In dem Kurs über amerikanische Lyrik habe ich zwei Essays geschrieben, einen über ein Gedicht von Harryette Mullen und einen über ein Gedicht von Adrienne Rich. Die Notizen zu der Mullen-Arbeit werden dort im Keller noch aufbewahrt, die zu dem Rich-Gedicht aber nicht, weil ich sie in ein Buch geschrieben habe, das mir so heilig war, dass ich es niemals aus dem Augen ließ. Und so gehört es zu dem wenigen, was das Aufräumen meiner Mutter überlebt hat - eine Taschenbuch-Lyrik-Anthologie, die ich von der Schule an die Uni und überall hin mitnahm, wo ich danach war: Nach Kenia, zum Peace Corps, nach Cambridge, wo ich promovierte, nach Ann Arbor, wo ich noch länger promovierte, nach Provincetown, wo meine Partnerin ein Schreibstipendium hatte und dann nach Texas, wo wir ein Haus kauften. Als es in Texas ankam, fehlten dem Buch sowohl der hintere als auch der vordere Umschlag. Die Seiten waren so voller leidenschaftlicher Anmerkungen, dass es für jeden unlesbar geworden war außer für mich, und der Buchrücken war von klebrigem braunem Zeug bedeckt, den Termiten in seiner Peace-Corps-Zeit dort hinterlassen hatten. Es war wie eine schmutzige, fleckige Kuscheldecke, ein Stück wertvoller Abfall.

Als ich das Haus in Texas verließ, ließ ich auch die Anthologie zurück, und als die Kisten mit meinen Büchern schließlich bei mir ankamen, war sie nicht dabei. Ich fragte nicht danach, weil ich wütend war auf meine Ex, so wütend wie auf meine Mutter - zu wütend, um an mich selber zu denken oder danach zu fragen, was ich wollte. Ich habe meine Lektion über Liebesproben nicht gelernt, und jetzt ist es weg, das Buch. Noch ein Jahr später denke ich fast jeden Tag an diese verdammte Gedicht-Anthologie; sie ist zu so etwas wie einer Metonymie geworden (danke an den Kurs in Gedicht-Interpretation), dafür wie ich mit allem umgehe, das mir etwas wert ist. Ich fürchtete so sehr, wenn ich ausspreche, was mir etwas bedeutet, wenn ich es zu etwas Besonderem ernenne, dann würde ich es verlieren. Also missachtete ich es, warf es weg, behandelte es, als sei es nichts, und verlor es so auf jeden Fall.

Für die Norton Critical Edition der Lyrik und Prosa von Adrienne Rich hingegen hatte ich an sich keine Gefühle, und so blieb sie für fast 20 Jahre unberührt, bis letzte Woche, als ich sie während meines Besuchs im Keller aufschlug. Und zwar genau an der Stelle, wo das Gedicht "Schnappschuss einer Schwiegertochter" steht, das auch in der verlorenen Gedicht-Anthologie enthalten war. Ich habe so verzweifelt versucht den Teil meiner Selbst zu bewahren, der in der Anthologie steckte und es verloren, aber ich habe nichts für das Selbst getan, das in diesem Lyrik-Kurs mitschrieb, und doch: Da war sie.

Mit Bleistift hatte sie genau dieselben Verse unterstrichen, die ich in der Anthologie markiert hatte; Verse, die ich in den folgenden 20 Jahren wieder und wieder las. Ich glaube, als ich sie das erste Mal las, fand ich sie vor allem schön; mit jedem Jahr bedeuten sie mir mehr, als die Beschreibung einer bestimmten Art weiblicher Erfahrung des Alterns, die mich erschreckt und fasziniert. Wollen Sie sie lesen? Ich weiß nicht, ob sie in der Übersetzung und aus dem Kontext gerissen noch wirken, aber hier sind sie: "Deine Gedanken zerfallen jetzt wie eine Hochzeitstorte, / schwer von nutzlosen Erfahrungen, reich / an Argwohn, Gerüchten, Fantasien, / zerbröckeln in Krümel unter dem Messer / schierer Tatsachen."

Was ist es, das so viele unserer Erfahrungen nutzlos werden lässt? Hat es mit der Ehe zu tun, mit Weiblichkeit, oder ist es etwas anderes? Wie können wir verhindern, dass unser Geist zerfällt? Ich wünschte, ich könnte es sagen. Fragen Sie mich in 20 Jahren wieder, vielleicht weiß ich es dann.

Aus dem Englischen von Marie Schmidt.

Weitere Folgen der Kolumne "Trans Atlantik Express" finden Sie unter sz.de/transatlantikexpress .

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