Süddeutsche Zeitung

Bayreuther Festspiele:"Man kann nur um Figuren weinen, mit denen man vorher gelacht hat"

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Vor der Eröffnung der Festspiele erzählt Regisseur Tobias Kratzer, was die Wegwerfgesellschaft mit Wagner zu tun hat und warum er sich die Premiere seiner "Tannhäuser"-Inszenierung nicht ansieht.

Von Julia Spinola

Berühmt geworden ist Tobias Kratzer, nachdem er 2008 beim Grazer Regiewettbewerb Ring Award mit seinem Team in zwei verschiedenen Identitäten und mit zwei grundverschiedenen Regiekonzepten für Verdis "Rigoletto" gegen sich selbst angetreten ist. Einen Entwurf stellte er als Frau verkleidet unter dem Pseudonym Ginger Holiday vor, einen anderen als Mitglied eines angeblichen bulgarischen Regieteams unter dem Namen Nedko Morakov - zum Schluss räumte er alle zu vergebenden Preise ab. Am Donnerstag eröffnen die Bayreuther Festspiele mit Kratzers Neuinszenierung von Richard Wagners "Tannhäuser".

SZ: Den "Tannhäuser" haben Sie 2011 schon einmal in Bremen inszeniert. Haben Sie da auch gleich ein zweites Konzept mit im Kopf gehabt, auf das Sie jetzt zurückgreifen können?

Tobias Kratzer : Zusammen mit meinem langjährigen Kostüm- und Bühnenbildner Rainer Sellmaier arbeite ich tatsächlich so, dass wir meistens verschiedene Stränge parallel verfolgen, manchmal drei oder vier verschiedene Interpretationsansätze. Irgendwann muss ich mich dann entscheiden. Ich denke dialektisch und da schließen sich dann die verschiedenen Perspektiven oft einfach aus. Beim "Tannhäuser" war das jetzt nicht so. Ich hatte kein zweites Konzept in der Tasche. Es kam mir aber entgegen, dass ich in Bremen die spätere Pariser Fassung inszeniert habe, während es in Bayreuth die viel frühere Dresdner Fassung ist. Was mir also geholfen hat - erst als Arbeitshypothese, dann ganz konkret - ist, dass ich erkannt habe: Eigentlich ist es ein anderes Stück.

Sind die Fassungen so unterschiedlich?

Der zweite und der dritte Akt sind jeweils nahezu identisch. Aber sie unterscheiden sich massiv in der Exposition. Die Pariser Fassung hat das lange Bacchanal, diese szenisch und musikalisch rauschhafte Orgie, vor der Venusbergszene im ersten Akt, das eine ganz andere Welt aufmacht. Man hat das Gefühl, Wagner will gar nicht mehr raus aus diesem Venusberg. Wenn man das als Exposition ernstnimmt, führt einen das auf völlig andere Wege: Wagners politischer Veränderungswille weicht fast komplett dem Wunsch nach einem avantgardistischen Raffinement, einer ästhetischen Vervollkommnung des musikalischen Materials. In der Dresdner Fassung ist das alles noch viel ergebnisoffener. Das sind zwei völlig verschiedene Haltungen zur Welt.

Ausgerechnet Ihre Bremer Inszenierung auf der Grundlage der unpolitischeren Pariser Fassung war aber sehr politisch. Sie spielte im RAF-Milieu.

Da gibt es ein Missverständnis: Was wir dargestellt haben, war die dritte Generation der RAF. Es ist eine nicht verwirklichte Revolution, eine Resignation, ein in den Leerlauf eingetretenes revolutionäres Potenzial, das sich in dieser dritten Generation gezeigt hat. Tannhäuser war bei uns nicht Andreas Baader, sondern wir haben mit dem gescheiterten Terroreinsatz von 1993 in Bad Kleinen geendet.

Wie hat sich Ihre Sicht auf die Oper geändert? Viele Regisseure betonen den Gegensatz zwischen der zügellos-erotischen Welt der Venus und der strengen Sexualmoral der Wartburggesellschaft.

Ich sehe "Tannhäuser" nach wie vor als ein eher politisches Stück. Nicht als eines, das von einem Sexualdiskurs handelt. Ich glaube, dass die für uns heute nur schwer verdaubare Antinomie von Hure und Heiliger, die in den Figuren von Venus und Elisabeth steckt, schon für Wagner nicht relevant war. Wagner hat dieses ausgelutschte Frauenbild, das heute unerträglich ist, als ein bewusst überkommenes Schema genommen, und daraus ein Stück gemacht, in dem es viel stärker um seine Sicht auf die Welt geht, als um die Frage: Sex vor der Ehe - ja oder nein? Ich habe schon in Bezug auf meinen ersten Tannhäuser gescherzt, dass ich vielleicht einer der wenigen Regisseure bin, die in der Venusbergszene zu wenig Nacktheit auf der Bühne zeigen. Allzu viel davon wird es jetzt auch nicht geben. Ich glaube, dass dieser Sexualitätsdiskurs in der Rezeptionsgeschichte des Stücks überhandgenommen hat. Ich finde es spannender, die politische und kunstpolitische Diskussion herauszuholen.

Wieviel Wagner steckt in der Figur des Tannhäuser?

Ich glaube, sehr viel. Ich vergleiche es gerne mit Goethe und seinem "Werther": Goethe musste Werther sterben lassen, um sich nicht selbst die Kugel zu geben. Und er hat sich dadurch befreit, dass er diesen Konflikt in seinem Werk bearbeitet. Ich glaube, das ist bei Wagner ähnlich. Als Wagner von 1842 an den "Tannhäuser" schrieb, floss die Hälfte seiner Energien zugleich in seine politische Essayistik. Das Dilemma, nicht zu wissen: Wie wird er in die Geschichte eingehen? Als einer, der bei den Dresdner Aufständen den König gestürzt hat? Oder wird er später als Komponist kanonisiert werden und ein Festspielhaus bauen? Es gibt da schon einen diffusen Drang zur Größe, aber worin sie sich artikulieren wird, ist noch nicht klar. Der Tannhäuser des Venusberges ist der anarchistische junge Wagner, der Tannhäuser der Wartburgwelt der kanonisierte Meister von Bayreuth. Und beide scheitern sie.

Für welche Sphäre ergreifen Sie Partei?

Ich versuche, beiden Welten ihre Gültigkeit zu lassen. Ich würde auch die Gesellschaft der Wartburg nicht zu früh als ein bloß sinnloses Reglement verwerfen. Das Regelgerüst hat erst einmal genauso eine Berechtigung, wie die Auflehnung dagegen. Natürlich sympathisiert man instinktiv mit jenen, die sich im Supermarkt aus dem Gemüse, das am Ende des Tages zum Müll kommt, die verschimmelten Mohrrüben abgreifen, weil sie die Wegwerfgesellschaft kritisieren und unterlaufen wollen. Aber sobald man ein bisschen Hirn dazu schaltet, wird einem klar: Wenn das alle täten, gäbe es gar keine verschimmelte Mohrrübe, weil es keinen Laden gäbe. Dann kann man sich noch so aufgeklärt gerieren - man kommt nicht aus dem Dilemma heraus. Diese dialektische Sicht finde ich spannender, als mich auf eine Seite zu schlagen.

Im Besetzungszettel findet man auch Figuren, die in Wagners Oper nicht vorkommen: der Cabaretkünstler Le Gateau Chocolat zum Beispiel.

Den habe ich vor sechs Jahren auf dem alternativen Fringe Festival in Edinburgh entdeckt. Da trat er in einem ziemlich absurden Kaberettprogramm auf. Und schon da habe ich gedacht: Das ist mein Mann für Bayreuth. Ein Jahr später zeigte er dann ein grandioses Soloprogramm, das er mit der Hallenarie der Elisabeth eröffnete. Für mich war das wie ein Zeichen.

Wird es auch lustig werden?

Ich glaube schon. Und das ist auch wirklich notwendig, weil es zum Ende hin so ein bitterschwarzes Stück wird. Ich glaube, man kann nur um Figuren weinen, mit denen man vorher schon gelacht hat. Humor ist emotional ein wichtiges Mittel, um Sympathien mit den Figuren aufzubauen.

Werden Sie sich die Premiere anschauen?

Nein, ich bin immer weg bei den Premieren. Ich schaffe das nervlich nicht - und hätte auch die Sorge, dass sich diese Nervosität auf die Bühne überträgt. Der etwas noblere Grund, warum ich nicht mit in der Premiere sitze: Das Kind muss auch alleine laufen lernen. Ich will kein Helicopter-Daddy sein. Dafür gibt es ja auch Assistenten und Abendspielleiter.

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