Süddeutsche Zeitung

Theater:Russland 1917 und 2017

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Das HAU-Theater widmet dem Thema der utopischen Realitäten ein Riesenprogramm. Den Anfang machte eine Performance der russischen Kuratorin Marina Davydova: die russische Revolution - in Wahrheit eine reaktionäre Konterrevolution.

Von Peter Laudenbach

Auf Utopien herumzutrampeln, macht nicht unbedingt Spaß. Im Berliner HAU-Theater liegen sie in Form zerfetzter Plakate der russischen Konstruktivisten auf dem Boden. Marina Davydova, eine der wichtigsten Kuratorinnen des unabhängigen Moskauer Theaters, und die Bühnenbildnerin Vera Martynov haben das HAU 3 zu einer Passage durch ein russisches Jahrhundert der zerstörten Utopien umgebaut. Es ist zu Beginn des Gedenkjahres ein bitterer Kommentar zum Jubiläum der glorreichen Oktoberrevolution. Der bolschewistische Putsch vom Oktober 1917 markiert für Davydova den Beginn der Konterrevolution, die anarchistische und demokratisch-sozialrevolutionäre Bewegungen abwürgte. Wie in einer Zeitreise verwandelt sich der Raum des "Eternal Russia" vom Speisesaal der Zarenfamilie zur Chaos-Baustelle der Revolutionsjahre, in dem die Puppen der Zarenkinder auf dem Teppich liegen und ein Baumstamm das Porzellan zertrümmert hat: Rumms. Aus dem Zaren-schloss wird das ZK-Büro, ein paar Jahrzehnte und Theaterszenen später ist es in der Kontinuität der Macht zum Nostalgie-satten Museum der Putin-Ideologie geworden. Väterchen Putin blickt in Endlos-Porträt-Serie von der Wand auf seine Untertanen. Weil sein Regime postmodern die Feier der orthodoxen Kirche und den Pomp der Zaren mit neuem Stalin-Kult mischt, muss man sich über eine Ikone mit Stalin-Bild nicht wundern. Andere Räume inszenieren wie in kurzen Blitzlichtern Momente radikaler Aufbrüche, von den Anarchisten des 19. Jahrhunderts bis zur sexuell emanzipierten Kommunistin Alexandra Kollontai, die zu Beginn der 1920er-Jahre nackt vor den Kreml-Mauern tanzte wie eine Pussy Riot-Vorläuferin. Ein Raum, düster und kalt, der Boden mit Lumpen, zerrissenen Plakaten und Abfall bedeckt, ist den Künstlern der linken Avantgarde gewidmet, vom Theaterregisseur Meyerhold (gefoltert und umgebracht von Stalins Geheimpolizei) über die Dichter Daniil Charms (im Gefängnis verhungert) und Wladimir Majakowski (Selbstmord) bis zum Konstruktivisten Tretjakow (hingerichtet). Andere wie der Komponist Dmitri Schostakowitsch lernten, jeden Tag mit der Angst zu leben. Davydova plant, ihre Installation auch in Moskau zu zeigen.

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Quelle:
SZ vom 14.01.2017
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