Süddeutsche Zeitung

Theater:Jubelnd ins Matriarchat

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Die Regisseurin Lucia Bihler räumt an der Berliner Volksbühne gemeinsam mit der Autorin Stefanie Sargnagel mit dem Opfermythos der Iphigenie auf.

Von Egbert Tholl

Erst einmal genießt man den Ort, den Raum, schaut die Zuschauer an und denkt sich: Ein Drittel von denen war noch nicht geboren, als die Mauer fiel. Interessiert die die Bedeutung, die die Volksbühne in der DDR hatte? Oder danach unter Frank Castorf und dessen Weiterführung des Diskurses? Klingt atavistisch, überholt, und doch findet man in Berlin leicht Leute, die seit Jahren nicht in die Volksbühne gehen, weil sie Verrat am alten Diskurs wittern.

Aber sie verpassen einen neuen. Die derzeitige Interimsleitung unter Klaus Dörr bringt ganz andere Themen auf die Bühne, deren Zorn dem des alten Mannes Castorf nicht hinterherhinkt und für die sich nun viele jüngere Menschen interessieren. Zumal dann, wenn Lucia Bihler (als Hausregisseurin Teil der Leitung) inszeniert und sich der berühmtesten und rätselhaftesten Opfergestalt des Theaters annimmt, der Iphigenie. Aber bei ihr heißt der Abend "Iphigenie. Traurig und geil im Taurerland". Daran mitgearbeitet haben die Schauspielerin Teresa Schergaut und die Dramaturgin Hannah Schünemann und vor allem Stefanie Sargnagel, Wiener Blog-Virtuosin und Literatin mit großer Wut.

"Ich zerfick euch mit meinem Binnen-I."

Bevor aber Sargnagel den Abend im zweiten Teil mit ihren Worten bestückt, gibt es erst einmal die Urform des Stoffes. Euripides "Iphigenie in Aulis", ziemlich textgetreu erzählt, ziemlich atemberaubend umgesetzt. In der Antike spielten nur Männer, hier spielen nur Frauen. Jana Wassong hat ihnen dafür einen wundervollen, lichten Tempel aus hellem Holz auf die Bühne gestellt. Dreht sich diese, rückt das rückwärtige Opferbecken in den Vordergrund, alles ein hehres Bild mit zarter Ironie. Im Tempel hat sich eine außerordentliche Damenkapelle eingenistet, die fabelhafte Arrangements von Jacob Suske spielt, Madonnas "Like a Virgin" etwa, für Posaune, Bassklarinette und Schlagzeug, Boogaloo, Zwanzigerjahre und enorm viel Drive - es fehlte nicht viel, das Publikum tanzte mit den Frauen auf der Bühne mit.

Die sind aber auch großartig. Verschroben wie Emma Rönnebeck als Menelaos, piepsig-mädchenhaft wie Vanessa Loibl als Iphigenie, vollkommen furchtlos wie Teresa Schergaut als Odysseus. Und leuchtend in der Sprache. Souverän und magisch in ihren Bann ziehend wie Susanne Wolff als Agamemnon. Sie tragen Hörnchen, staksen herum wie kleine Stierchen in pastellenen Anzügen, machen ein bisschen leicht hysterischen Quatsch, wie so oft in den Inszenierungen von Bihler. Höhepunkt des ersten Teils ist die Diskussion der beiden Brüder: Menelaos will seine Frau Helena zurück und deshalb Krieg. Agamemnon sträubt sich. Wolff und Rönnebeck zerknüllen den Brief, der Iphigenie retten hätte können, spielen damit Fußball. Wolff gewinnt mit zauberhafter Eleganz. Und opfert dann als König die Tochter der Staatsraison. Damit die Götter Wind schicken.

Dieses Ende wird konventionell runtererzählt, die Würde, mit der Iphigenie selbstbestimmt zu ihrer Opferung schreitet, leicht vergeigt. Aber letztlich wird das nur ausgebreitet, um es mit Verve wegwischen zu können. Denn nun, auf Tauris, erfüllt sich der Titel der Aufführung. Alle fünf Solistinnen werden zu Iphigenien, die man mit dem Versprechen, Achill zu heiraten, zum Opfer lockte. Nur wollen die fünf gar nicht heiraten. Sie könnten den Taurer-König nehmen, aber der ist gar nicht anwesend, und gesellschaftlicher Aufsteig mittels Ehe kommt nicht infrage. Sex schon.

Nun hebt die Sargnagel-Wutshow an, mit schmierigen Männern, die aus dem Off im Call-Center dieses Schwebereiches anrufen, mit lustigen Verfolgungsfahrten auf Elektro-Gokarts und Suaden über das Recht der Frau, dick sein zu dürfen und sich fett zu fressen. Das ist ein bisschen Sargnagel-Standard, unabhängig von "Iphigenie", kriegt aber nach einer längeren, rein kabarettistischen Phase die Kurve, und Susanne Wolff verkündet: "Ich zerfick euch mit meinem Binnen-I."

Jubelnd ins Matriarchat entschwebt dann nur die Iphigenie Loibls, hängt über der Bühne und weiß: "Ich bin Goethe." Sie bestimmt sich selbst.

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Quelle:
SZ vom 17.09.2020
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