Süddeutsche Zeitung

Theater:Es passiert nie nichts

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Erst kommen die Ängste, dann die Zäune. Philipp Löhle hat am Staatstheater Nürnberg "Am Rand" inzeniert, einen metaphorischen Krimi aus der bayerischen Provinz.

Von Christine Dössel

Jetzt hat auch die Oberpfalz ihren Regionalkrimi, diese bislang vom flächendeckenden Polizeifernsehen noch weitgehend ausgesparte Gegend an der Grenze zu Tschechien. Es ist allerdings kein "Tatort"-Kommissar, der dort nun hinbeordert wurde, in ein Kaff namens Randhausen, sondern ein Theaterpolizist: Frederick Kaufmann, kurz Fred, 33, von dem Dramatiker Philipp Löhle in dem Stück "Am Rand" in die nordostbayerische Pampa geschickt, um den Polizeioberwachtmeisterposten zu übernehmen. Bislang gab es keine Polizei in Randhausen. Es ist nie etwas passiert.

Obwohl: "Es passiert ja nie nichts" - so sät das Stück bereits erste Misstrauenssamen auf der Metaebene. Etwa wenn es darüber reflektiert, dass der Mensch im Leben jene Konflikte zu vermeiden trachtet, ohne die er jedes Drama, jeden Film langweilig fände. Im Übrigen gilt: "Die Wahrscheinlichkeit nimmt jeden Tag zu, dass etwas passiert, wenn bisher nichts passiert ist."

Das Stück, uraufgeführt in den Kammerspielen am Staatstheater Nürnberg (Löhle ist dort Hausautor), folgt diesem Erkenntnissatz, insofern sei versichert: Es wird einen Toten geben. Im rechten Autoscheinwerferlicht betrachtet sogar mehrere Tote. Aber bis es so weit kommt, feiert der Theaterabend mit nonchalanter Komik das Sein und das Nichts. Beziehungsweise die eigentlich ganz gut erträgliche Ereignislosigkeit des Provinzdaseins. Selbst wenn ein Sack mit Äpfeln umkippt oder eine Fliege über einen Handrücken krabbelt, wird das erwähnt. Im wahren Leben bedeutet das: nichts. In der dramatischen Fiktion jedoch baut es eine gewisse Spannung auf, denn wir (krimiserienerprobten) Zuschauer selber laden solche Details mit Bedeutung auf. Und oft zeitigen banale Vorgänge ja tatsächlich fatale Folgen.

Als Lisa im Wald verschwindet, gründen sie eine Bürgerwehr

Einmal weist der Text darauf hin, dass gerade im Norden Grönlands, "etwa 816 Kilometer vom geografischen Nordpol entfernt", ein Brocken Eis "in der Größe eines Mehrfamilienhauses in den Ozean bricht". Niemand nimmt davon Notiz. Aber dieser Gletschereisbruch wird in gar nicht so ferner Zukunft Konsequenzen haben. Für uns alle. Von wegen es passiert nichts!

Randhausen also. Tiefste Provinz. Der überforderte Fred (Felix Mühlen) muss auf seinem Polizeiposten, auf dem er Sicherheit gewährleisten soll, Akte grober Fahrlässigkeit feststellen: Niemand sperrt sein Fahrrad ab, Haus- und Geschäftstüren bleiben unverschlossen, Pakete stellt der Postbote einfach davor ab. Selbst die Grenze zu Tschechien ist ungesichert und wird von einer Wildsau mehrmals überquert. Heißt: "Randhausen ist offen wie Hose."

Mit dem geschürten Gefühl der Bedrohung kommen die Zäune. Erst Maschendraht vor dem Weizenfeld, schließlich ein Schlagbaum vor der Ortseinfahrt. Und als die kleine Lisa nicht mehr aus dem Wald zurückkehrt, wo sie mit ihrer Freundin Jana regelmäßig einen Troll gefüttert haben soll, gründet Randhausen eine Bürgerwehr. An die Mär vom "Troll" glaubt natürlich niemand, obwohl in dem Stück tatsächlich einer vorkommt: ein riesiges, haariges Fabelwesen, dessen pelzige Tatze auf der Bühne einmal hereinwinkt. Für die Mädchen ist der Troll real. Jana sagt: "Wir putzen ihm immer das Fell." Hallo? Da schrillen die Alarmglocken. Ausgerüstet mit Gewehren, Funkgeräten und Leuchtwesten machen die Dorfbewohner Jagd auf einen Sexualtäter - und schlagen versehentlich einen der ihren zusammen.

In der Uraufführung von Jan Philipp Gloger, dem neuen Nürnberger Schauspielchef, sind die Szenen mit den besorgten Müttern und den nächtlich jagenden Wutbürgern besonders lustig. Kreisende Scheinwerfer, Walkie-Talkie-Störfälle, große Aufregung und Missverständnisse. Dazu ein ständiges Auf und Ab auf der Bühne und durch die Gänge des Parketts. Fünf der acht Schauspieler müssen permanent die Rollen und Kostüme wechseln, mal den Fleischer spielen, mal den Bürgermeister, mal die krebskranke Frau Henske.

Das klappt wie am Schnürchen, geht reibungslos von einer Szene in die nächste über, wobei jeweils mit nur wenigen, schnell herbeigeschafften Requisiten ein Ort angedeutet wird: Büro, Café, Küchentisch, Waldrand, Auto, Bett. Gloger inszeniert skizzierend, mit leichter Hand, wie ein Maler mit schnellem Pinsel. Franziska Bornkamms Bühne bietet ihm dafür viel schwarzen Raum zum Ausmalen. Zentral wie eine Metapher für Deutschland oder ganz Europa: das Ortsschild Randhausen.

Philipp Löhles Stücktitel "Am Rand" trägt in Klammern den Zusatz "ein Protokoll". Der Text ist tatsächlich nicht nur dialogisch, sondern auch protokollarisch geschrieben. Es gibt Erklärsätze, epische Passagen, sogar Fußnoten. Und immer werden exakte Zeitangaben gemacht. Als gelte es, eine objektive Wahrheit zu behaupten. Gloger verteilt diese Passagen auf zwei "Protokollanten" im Anzug, die alles aufzeichnen, fotografieren und auf der Bühne wie Erzähler fungieren. Das ist schauspielerisch nicht sonderlich ergiebig, aber man gewöhnt sich dran.

Der Clou an diesem Text über Ängste und Grenzen ist, dass er selber an eine Grenze stößt und sich von da an teilt: in ein utopisches und ein dystopisches Stück, mal mit einem fast peinlich harmonieseligen, mal mit einem realistisch horriblen Schluss. Man glaubt natürlich viel mehr an die Katastrophe. Sie führt von einem Grenzvorfall in Randhausen zum dritten Weltkrieg.

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Quelle:
SZ vom 13.03.2019
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