Süddeutsche Zeitung

Theater:Eine Fiktion von Realität

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"Die goldene Lüge" - Caitlin van der Maas im HochX

Von Egbert Tholl, München

"Durchsichtig ist der Mann aus Glas am Boden des Teichs." Ein schöner Satz, so voller Rätsel. Wer ist der Mann aus Glas? Warum ist er aus Glas? Was tut er am Boden des Teichs? Wir wissen es nicht, aber wir wissen vieles nicht.

Bedienungsanleitung: "Journalismus hat ein Problem damit, als fiktional dazustehen, obwohl es manchmal kaum zu glauben ist, was geschieht. Theater hat ein Problem damit, eine Wahrheit zu behaupten, weil es nur ein Spiel ist, eine Verabredung."

Die Bedienungsanleitung steht im Programmzettel von "Die goldene Lüge", einem im weitesten Sinne Musiktheaterabend von Caitlin van der Maas im HochX. Die Anleitung, die keine ist, führt auf eine falsche Fährte. Caitlin van der Maas macht keinen Abend über Fake-News oder ähnlich tageaktuellen Kram, obwohl ein paar Nachrichten in den eineinhalb Stunden auftauchen. Etwa jene vom Knochenfund der seit 2001 vermissten Peggy und den dort entdeckten, vermeintlichen DNA-Spuren des NSU-Täters Böhnhardt.

Die Panne mit den verpfuschten DNA-Spuren ist natürlich ein Musterbeispiel für versehentlich erfundene Realität. Aber sie ist hier nur ein Ausgangsbeispiel für etwas viel Weitergehendes: eine Phänomenologie der Wahrnehmung. Und der Geschichten, die einerseits Wahrnehmung bestimmen und andererseits von ihr ausgelöst werden. Musik kündet von einer Parallelwelt, eine Laute und eine Geige werden gespielt, und eigentlich sänge ein Counter, aber Stefan Görgner hat seine Stimme verloren, stumm spielt er, was atmosphärisch hervorragend zu dem Abend passt, aber den Gesang muss der Komponist Tom Smith selbst übernehmen.

Es geht um einen Nachrichtensprecher (Wowo Habdank), den die Mutter des verschwundenen Kindes im Studio besucht - Sylvana Seddig ist eine bildschöne Traumerscheinung. Der Sprecher verliebt sich in die Frau, zu Hause wartet die vielleicht schwangere Gattin (Angelika Krautzberger), die Tochter spielt Geige - Ronja Sophie Putz schaut aus wie 14, ist aber älter und Geigen-Profi. Das verschwundene Mädchen taucht auf (Leni Witzigmann), ein schlafloser, fabelhafter Junge (Niclas Jaeger), ein schwarzer Mann (Yusuf Jabbi) wartet auf einer Parkbank, und die Obertitel künden "Discolicht" an, obwohl das Licht von Max Kraußmüller zwar schön, aber nicht Disco ist. Caitlin van der Maas erfindet ein psychotisches, surreales Spiel in traumverlorener Elastizität von Zeit, ein Kunstwerk mit vertrackter Aufgabenstellung an den Zuschauer, aber einer gewissen Langzeitwirkung.

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Quelle:
SZ vom 04.12.2017
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