Süddeutsche Zeitung

Tanz:Sturz vom Podest

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Yat-Sen Chang Oliva, ehemaliges Ensemblemitglied des Kieler Theaters, wurde wegen sexueller Nötigung in dreizehn Fällen verurteilt.

Von Dorion Weickmann

Am 12. Mai zur Mittagszeit lässt sich das Profil von Yat-Sen Chang Oliva noch auf der Website des Theaters Kiel einsehen. Demnach startete der 49-Jährige seine Bühnenkarriere 1989 beim Kubanischen Nationalballett, vier Jahre später holte ihn das English National Ballet nach London und kürte ihn zum Ersten Solisten, 2017 ging er zunächst als Gast, dann als fest angestellter Tänzer und Trainingsleiter nach Kiel. Chang Oliva tanzte das Klassikerrepertoire, choreografierte selbst und trat bei Galas und VIP-Events wie einer Princess-Di-Gedenkveranstaltung auf - das alles klingt nach solider Laufbahn auf internationalem Niveau. So steht es im Netz, bis zum frühen Nachmittag. Dann ist die Seite schwarz, Yat-Sen Chang Oliva verschwunden.

Tags zuvor hat ihn ein Gericht in London verurteilt: wegen sexueller Nötigung in dreizehn Fällen, einer davon "mit Penetration". Er sitzt in Haft, am 18. Juni soll das Strafmaß verkündet werden. Der Richter hat ihm, wie britische Medien berichten, eine empfindliche Gefängnisstrafe in Aussicht gestellt. Deshalb zieht das Kieler Theater am 12. Mai den Schlussstrich. Auf Anfrage wird mitgeteilt, man habe "die sofortige Freistellung von Herrn Chang Oliva beschlossen und prüft weitere Schritte." In der Tat muss man in Kiel der Frage nachgehen, ob sich auch hier Übergriffe abspielten, wie sie zwischen 2009 und 2016 am English National Ballet (ENB) und an der Dance Academy London stattfanden. Das Gericht sah es als erwiesen an, dass der Tänzer "seine Position und seine Macht" dazu benutzt hat, vier junge Frauen im Alter zwischen 16 und 18 Jahren sexuell zu attackieren. Unklar ist, wie der Prozess ins Rollen kam. Ob die Opfer selbst die Initiative ergriffen, ob jemand beim ENB Verdacht schöpfte - die Presseabteilung der Kompanie hüllt sich in Schweigen.

Wichtig wäre, dass das Kieler Theater aus dem Fall von Liam Scarlett Lehren zieht

So oder so markiert der Fall eine Zäsur, ist doch bislang noch niemand aus der internationalen Tanzszene wegen eines Sexualdelikts unter "Me Too"-Vorzeichen verurteilt worden. Wo Machtmissbrauch und Übergriffigkeit ruchbar wurden, kam es zu Rücktritten und Rausschmissen, aber nie zu einer Aufarbeitung vor Gericht. Wie wichtig Transparenz ist, hat jedoch gerade erst der frühe Tod des britischen Choreografen Liam Scarlett gezeigt ( SZ vom 19. April). Der Hauschoreograf des Royal Ballet hatte im März 2020 unter nebulösen Umständen seinen Job verloren.

Ausschlaggebend dafür waren offenbar sexuelle Verfehlungen, doch weder die Ballettdirektion noch der Künstler haben die Gründe der Trennung je kommentiert. Das Ergebnis waren toxische Spekulationen aller Art. Nach Scarletts mutmaßlichem Freitod lieferten sich seine Freunde und "Me Too"-Aktivistinnen erbitterte Wortgefechte in den Social Media. Der Preis für diese Erregungskultur ist hoch, die Wahrheit bleibt endgültig auf der Strecke. Wenn der Sachverhalt nie offiziell auf den Tisch kommt und alle direkt Beteiligten schweigen oder Schweigen vereinbaren, tritt Maximalschaden ein: zerstörtes Vertrauen, ruinierter Ruf - jede Art von Wiedergutmachung, Täter-Opfer-Ausgleich und Rehabilitation unmöglich. Liam Scarlett hat dafür mit dem Leben bezahlt, das Renommee seines ehemaligen Arbeitgebers deutliche Kratzer erlitten. Aus dieser Affäre sollte das Kieler Theater Lehren ziehen, indem es erkundet und öffentlich macht, was in seinen Reihen passiert ist - oder eben nicht passiert ist. Yat-Sen Chang Oliva hat vor Gericht in London sämtliche Anklagepunkte bestritten. Was seine Selbstwahrnehmung in puncto Grenzüberschreitung angeht, besteht offenbar Nachbesserungsbedarf. Er dürfte kein Einzelfall sein.

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