Süddeutsche Zeitung

"Tannöd"-Nachfolger "Kalteis":"Aber so sind Serienmörder"

Lesezeit: 3 min

Auch der zweite Roman von Andrea Maria Schenkel beschreibt einen realen Kriminalfall. "Kalteis" rollt den Fall des fünffachen Frauenmörders Johann Eichhorn auf und ist "wirklich brutal" - findet sogar die Autorin.

Rudolf Neumaier

Johann Eichhorn war durch und durch pervers. Aktenkundig sind etwa 90 Notzuchtverbrechen - so nannte man Vergewaltigungen in den dreißiger Jahren. Fünf Frauen hat er umgebracht. Erwürgt oder erschossen. Eichhorn, geboren 1906 in Aubing bei München, war verheiratet, Vater von zwei Kindern, Rangiergehilfe bei der Reichsbahn.

Die meisten Frauen überfiel er im Münchner Westen. Er schweifte radfahrend über einsame Forstwege, und wenn er eine Frau entdeckte, die in sein Beuteschema passte, stieß er sie vom Fahrrad, zerrte sie in den Wald. Wehrte sich das Opfer zu heftig, tötete er es, danach verging er sich an den Leichen. Er schnitt intime Körperteile aus den Leibern und kaute darauf. Gefasst, verurteilt und hingerichtet wurde er, nachdem er über ein Kind hergefallen war.

Im neuen Buch von Andrea Maria Schenkel wird Eichhorn zur Romantitelfigur Kalteis, Josef Kalteis. Noch bevor die erste Auflage von 50 000 Exemplaren ausgeliefert ist, musste der Verlag 30 000 Bücher nachdrucken lassen. Wegen der starken Nachfrage.

Literarische Doku

Mit "Tannöd", einer romanhaften Aufarbeitung des sechsfachen Mordes in der oberbayerischen Einöde Hinterkaifeck, hat Schenkel als Debütantin alle anderen deutschen Krimi-Autoren ziemlich abgehängt. 44 Jahre lang war sie Hausfrau und Mutter in dem kleinen Dorf Pollenried bei Regensburg. Seit einem Jahr ist sie Schriftstellerin. Sie gewann den Deutschen Krimipreis und den Friedrich-Glauser-Preis, das Hörbuch zu "Tannöd" ist preisgekrönt, gelesen hat Monica Bleibtreu.

Allerdings muss Andrea Maria Schenkel immer noch mit der Klage eines Sachbuchautors rechnen. Er wirft ihr vor, aus seiner Dokumentation über den Fall Hinterkaifeck abgeschrieben zu haben. Schenkels neuer Roman "Kalteis" steht in der aktuellen Krimiwelt-Bestenliste auf Platz drei. Obwohl er erst in dieser Woche erscheint.

Um Missverständnissen vorzubeugen, hat sie diesmal von Anfang an keinen Hehl aus den Quellen gemacht, die sie inspirierten. In einem Ausstellungskatalog über Münchner Kriminalfälle sei sie auf den Frauenmörder Eichhorn gestoßen, für weitere Recherchen habe sie ein Archiv besucht.

"Kalteis" beruht also wieder auf einem authentischen Fall, einzelne Sequenzen sind fast wörtlich aus den Vernehmungsprotokollen der Polizei übernommen. Die Namen sind verändert, einige Daten in den Erzählstrang eingepasst. Es gibt Schriftsteller, die eine so unmittelbare Nähe zur historischen Realität für unsportlich und trivial halten und es als ehrenvoller erachten, Phantasie walten zu lassen.

Doch der Tatsachenroman hat sich längst zu einem eigenen Genre entwickelt. Als Pionier auf diesem Gebiet gilt Truman Capote. Er stieß auf das Thema für seinen Krimi "In Cold Blood" ("Kaltblütig") in einem Zeitungsartikel. Dann recherchierte er mehrere Jahre lang. Seine eigene Phantasie brachte er bei der Montage der Geschichte ins Spiel. Ihre eigene Kreativität kommt auch bei Andrea Maria Schenkel zur Geltung - nicht nur bei der Beschreibung der Opfer und ihrer Geschichten, sondern vor allem bei der Konstruktion ihrer in kurzen Episoden erzählten Geschichte.

Sie rollt die Handlung von zwei Seiten auf: Mit dem Mörder beginnt sie an dessen Ende, bei seiner Hinrichtung, und geht mit ihm zurück in die Vergangenheit. Zur Vernehmung, zu den Morden. Die weibliche Hauptfigur, das Opfer Kathie, die aus der Provinz zur Arbeitssuche nach München kommt, führt Schenkel bei der Ankunft am Hauptbahnhof ein und erzählt in die Zukunft. Die Episoden sind mit Aussagen von Zeugen verwoben. Schnell wird klar, dass sich die beiden, Kalteis und Kathie, irgendwann treffen müssen. Dass Kalteis das Mädchen töten wird. Bis dahin ist die Geschichte ein einziges retardierendes Moment.

"Wirklich brutal"

Eine Buchhändlerin aus Bad Tölz hat Andrea Maria Schenkel eine Lesung abgesagt. Der Mörder sei ihr zu grausam, habe die Frau am Telefon erklärt. "Kann sein", sagt die Autorin, "er ist wirklich brutal. Aber so sind Serienmörder." Lutz Schulenburg, der Chef des Hamburger Verlags Edition Nautilus, fand das Buch "hart", wie er sagt. "Beim ersten Lesen dachte ich - uuuuh." Trotzdem, weil Schenkel nicht mit der Gewalt spiele, wollte er das Manuskript unbedingt drucken. Schenkels Kalender ist nun weit über die Frankfurter Buchmesse hinaus ausgebucht mit Lesungen. Im September tritt sie im Münchner Literaturhaus auf.

Wenn "Kalteis" in den Buchhandel kommt, sitzt sie in einem irischen Cottage und schreibt am nächsten Projekt. Ihr Mann hat sie für neun Tage zum Schreiben weggeschickt, mit dem Haushalt und den drei Kindern komme er zurecht. In Andrea Maria Schenkels Ferienzimmer hängt ein großes Plakat, auf dem sie Daten und Figuren aufmalt, um den Plot ihres neuen Romanes zu ordnen. Klingt nach einem authentischen Fall.

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Quelle:
SZ vom 6.8.2007
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