Süddeutsche Zeitung

Suizide zwischen 1918 und 1945:Selbstmord, warum?

Lesezeit: 2 min

Waren die vielen Suizide 1945 immer die Flucht vor der Justiz der Siegermächte? Oder gab es noch andere Gründe, die mit Furcht zu tun hatten? Ein Buch zur deutschen Selbstmordrate.

Franziska Augstein

Selbstmord war in der Weimarer Republik und dann auch nach der totalen Niederlage 1945 eine beliebte Methode, mit dem Leben fertig zu werden. Der am Londoner Birkbeck College lehrende Christian Goeschel hat die vergleichsweise hohen Selbstmordraten der Deutschen untersucht ( Suicide in Nazi Germany, Oxford University Press, Oxford 2008, 247 Seiten, 20 Britische Pfund). Sowohl während der Weimarer Republik als auch während der NS-Zeit, schreibt er, sei der Selbstmord in der öffentlichen Debatte vielfältigst thematisiert worden. In der Tat: Man war nationalistisch, expressionistisch, anarchistisch oder sonstwie exaltiert gestimmt: Die Rede vom Selbstmord bot sich rhetorisch an.

Zu Kriegszeiten sind psychische Depressionen rar. Wenn der Friede ausgebrochen ist, haben die Menschen wieder Muße, sich darauf zu besinnen, wie schlecht es ihnen geht. Nach dem Ersten Weltkrieg hinterließen deutsche Selbstmörder Abschiedsbriefe, in denen sie ihren Suizid heroisierten: Die Schmach der Niederlage könnten sie nicht ertragen.

1945 gab es noch ganz andere Gründe, sich umzubringen. Unter den NS-Funktionären war die Selbstmordrate verständlicherweise hoch: Viele nahmen sich das Leben, um den Siegern zu entgehen. Im Osten des Deutschen Reiches fürchteten die Leute sich vor der Roten Armee. Goeschel zitiert einen Pastor, der damals sagte, Joseph Goebbels' Propaganda habe ihre Wirkung getan: Viele Frauen entzogen sich einer möglichen Vergewaltigung durch Selbstmord, bevor die Soldaten der Roten Armee bei ihnen angekommen waren. Goeschel hat sorgfältig recherchiert, seine Arbeit wurde mit einem Preis ausgezeichnet.

Eine besonders interessante und auch fürchterliche Frage klärt Goeschel leider nicht. Sie ergibt sich aus den letzten Worten der Mutter des Philosophieprofessors Kurt Flasch: Wenige Sekunden, bevor sie 1944 bei einem Bombardement in ihrer Kölner Wohnung zu Tode kam, sagte die fromme Frau: "Herr, dein Wille geschehe." Kurt Flasch hat einmal erzählt: Seine Mutter habe gefunden, dass die Nazis Böses taten. Sie sei deshalb nicht überrascht gewesen, als sie, eine Unschuldige, aber eine Deutsche, von dem Gott, an den sie glaubte, zur Rechenschaft gezogen wurde.

So wie Goeschel die Selbstmorde jener Epoche betrachtet, erscheinen sie nicht bloß rational, sondern oftmals geradezu folgerichtig. Der Umstand aber, dass Kurt Flaschs Mutter in Köln ihren Tod hinnahm, weil sie ihn auch als Sühne für die Sünden betrachtete, die ihre Landsleute begingen, wirft die Frage auf: Waren die vielen Selbstmorde 1945 immer die - unmittelbar einleuchtende - Flucht vor der Justiz der Siegermächte und insbesondere den Soldaten der Roten Armee? Oder speiste sich der Wunsch, nicht länger leben zu wollen, bei Selbstmördern - zumal in den Ostgebieten des Deutschen Reiches - unter anderem daraus, dass sie von den Verbrechen in ihrer heimatlichen Umgebung genug wussten, um sich vor ihren Erinnerungen daran zu fürchten?

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.460508
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 11.5.2009/bey/rus
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.