Süddeutsche Zeitung

Stadtplanung:Plan und Wirklichkeit

Lesezeit: 4 min

1960 wurde Brasília als riesiges Zukunftsversprechen gebaut. Was ist 60 Jahre später davon übrig? Ein Ortsbesuch.

Von Christoph Gurk

30 Kilometer entfernt von den futuristischen Monumentalbauten, die das Zentrum Brasílias charakterisisern, steht ein Wasserturm. 27 Meter hoch, hellgrün gestrichen und rund wie ein UFO auf einer Stelze. Es gibt hässlichere Bauten, gewiss, aber eben auch sehr viel revolutionärere, weshalb es nur gerecht zu sein scheint, dass der Wasserturm nicht in die Architekturgeschichte eingegangen ist, Brasília aber schon: Eine Hauptstadt, entworfen auf dem Reißbrett, gebaut ins Nichts. Ein Stein gewordenes Symbol für ein neues Land, eine neue Zeit.

Wer aber 60 Jahre nach der Einweihung Brasílias, verstehen will, was aus Brasilien geworden ist, der sollte nicht durch die Prachtstraßen der Hauptstadt fahren, sondern Richtung Westen, so lange, bis die teuren Restaurants verschwunden sind, und nur noch rauchige Grillstände vor sich hinqualmen. Bis die glitzernden Wolkenkratzer kargen Hochspannungsmasten gewichen sind. Bis es keine grünen Parks mehr gibt, sondern nur noch Müll und rote Erde. Dann ist man da, in Ceilândia: Einst geplant als unbedeutender Wurmfortsatz Brasílias, ist Ceilândia heute doppelt so groß wie die eigentliche Hauptstadt, ihr Spiegelbild und Gegenteil.

Eine Stadt, aufgeteilt in Sektoren, verbunden durch Autobahnen, ohne Ampeln und Kreuzungen

Als Lúcio Costa und Oscar Niemeyer Mitte der fünfziger Jahre die Pläne für die neue Hauptstadt ersannen, legten sie ihr den berühmten Plano Piloto zugrunde, den Masterplan. Eigentlich als Kreuz auf einer Landkarte gemeint, wird er fälschlicherweise oft auch für ein Flugzeug gehalten. Auf der Nord-Süd-Achse sollten Wohngebäude stehen, an der Ost-West-Achse die Ministerien, der Kongress und der Präsidentenpalast. Dazwischen Sektoren für Hotels, Kultureinrichtungen und Banken, verbunden durch Autobahnen, ohne Ampeln und Kreuzungen. Denn auch das sollte Brasília sein: Ein Monument für den Fortschritt, ein Motor für die Veränderung der Gesellschaft. Allein, dieser Plan ging nicht auf und so entstand Ceilândia, ebenfalls auf dem Reißbrett entworfen, allerdings nicht für Regierungsbeamte und Ministeriumsmitarbeiter, sondern für Putzkräfte, Wäscherinnen, Müllmänner, und all die anderen, für die es in der futuristischen Hauptstadt keinen Platz gab.

Etwa eine halbe Million Einwohner hat Ceilândia heute, im Plano Piloto waren 200 000 vorgesehen. Und während sie in Brasília eines der höchsten Pro-Kopf-Einkommen Brasiliens haben, kommen viele Menschen in Ceilândia gerade so über die Runden. Ganz besonders gilt das für die Bewohner von Sol Nascente, der größten Favela Ceilândias, einem der größten Armenviertel Südamerikas.

Der Anfang vom Ende begann schon wenige Monate nach der Einweihung Brasílias am 21. April 1960. Die Präsidentschaft von Juscelino Kubitschek endete, er hatte den Bau in Auftrag gegeben, hinterließ nun aber einen riesigen Schuldenberg. Dazu kamen weitere Wirtschaftsprobleme, eine hohe Inflation und Grabenkämpfe zwischen links und rechts, die das Militär 1964 mit einem Putsch beendete. Stefan Zweigs "Land der Zukunft" wurde zu einem Land der Angst, mit Mord, Folter und Zensur. Diese bleiernen Jahre veränderten Brasilien und auch Brasília.

Die Idee einer Stadt, in der Arbeiter, Angestellte und Regierungsbeamte zusammenleben, hatte schon bei Baubeginn zu bröckeln begonnen. Zu eng war der Zeitplan, als dass man Apartments in vielen verschiedenen Größen hätte bauen können. Schnell war auch klar, dass viele der Bauarbeiter, die vor allem aus dem Norden des Landes gekommen waren, am Ende nicht wieder in ihre Heimat zurückkehren würden. So entstanden Satellitenstädte, die aber bald auch nicht mehr reichten. In den sechziger Jahren kamen Tausende Brasilianer auf der Suche nach Arbeit in die neue Hauptstadt und weil im Plano Piloto kein Platz für sie war, besetzten sie kurzerhand Land. Die Menschen lebten in Hütten, unter ärmlichen Bedingungen, trotzdem wuchs ihre Zahl bis 1970 auf bis zu 70 000 Menschen. Ein Projekt zur Beendung der illegalen Siedlungen wurde ins Leben gerufen, die Campanha de Erradicação das Invasões, deren Abkürzung CEI Ceilândia seinen Namen geben sollte.

Weit außerhalb der schönen, neuen Hauptstadt wurde abermals eine Siedlung ins Nichts geplant, am 27. März 1971 wurde der Grundstein gelegt und schon neun Stunden später karrte man die ersten 20 Familien nach Ceilândia, freiwillig oder unfreiwillig, das ist heute nicht mehr klar. In den folgenden Monaten folgten tausende weitere Menschen, oft mussten sie sich ihre Häuser und Hütten selbst bauen, Strom gab es genauso wenig wie Wasser. Damit fehlte den Menschen in der trockenen und staubigen Luft nicht nur Trink- und Waschwasser. Viele der Frauen hatten bis dahin auch als Wäscherinnen für die besser gestellten Familien in der Hauptstadt gearbeitet. Nun brach ihnen die Arbeit und damit auch das Einkommen weg.

Tanklaster sollten die Menschen versorgen, reichten aber bald nicht mehr. 1973 wurde dann mit dem Bau des Wasserturms im Zentrum begonnen und als er fertig war, kam nicht nur endlich Wasser aus den Leitungen, sondern auch ein bisschen Fortschritt zu den Einwohnern von Ceilândia. So wählten sie am Ende keinen Baum, kein Tier, keine Pflanze zu ihrem Wahrzeichen, sondern eben jenen Wasserturm.

2013 wurde er zum kulturellen Erbe der Region erklärt, Brasília hingegen schon 1987 zu dem der ganzen Welt. Die Stadt selbst darf nicht verändert werden, ist noch mehr zu einem Denkmal geworden als zuvor. Wegen des Coronavirus ist auch hier ein Großteil der Jubiläumsfeierlichkeiten abgesagt oder ins Netz verlegt worden.

In den letzten sechs Jahrzehnten ist der Hauptstadtdistrikt, zu dem auch Ceilândia gehört, zur drittgrößten Stadt Brasiliens geworden. Über drei Millionen Menschen wohnen hier, weniger als zehn Prozent davon leben allerdings im eigentlichen Plan Piloto. Sechzig Jahre nach dessen Einweihung haben sich viele der einstmals revolutionären Ideen zum Störfaktor entwickelt. Eine Stadt, geplant für Autos, ist heute ein überholtes Konzept, genauso wie die strenge Teilung in Sektoren.

Als Brasília vor 60 Jahren eingeweiht wurde, sollte die neue strahlende Hauptstadt das riesige Land einen. Doch nun sitzt im Präsidentenpalast ein rechtsextremer Populist, der den Klimawandel genauso leugnet wie die Gefahren durch den Coronavirus. Jair Bolsonaro hat Brasilien gespalten wie nie zuvor. In der Hauptstadt ziehen seine Anhänger durch die Straßen, um für die Abschaffung demokratischer Institutionen wie den Kongress oder das Oberste Gericht zu demonstrieren. Auch in Ceilândia haben viele Menschen bei den Wahlen 2018 für ihn gestimmt und bezeichnenderweise ist die Frau des Präsidenten, Michelle Bolsonaro, nicht in Rio, São Paulo oder gar dem Plano Piloto geboren, sondern in: Ceilândia.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.4913836
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 22.05.2020
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.