Süddeutsche Zeitung

Spurensuche:Kubismus der Wanne

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Die Welt verändert sich ständig - nicht aber die großen Fragen. Wir suchen in der Kunst nach wiederkehrenden Motiven. Die gestückelte Photoshop- Anatomie von Kourtney Kardashian wurde im Netz böse verspottet. Aber sie ist, siehe Picasso, reiner Kubismus.

Von Gerhard Matzig

Der Kopf ist viel zu groß für den Körper, und das linke Bein scheint nicht der Hüfte, sondern dem Unterschenkel des rechten Beines zu entwachsen - und warum markiert eigentlich die Brustspitze nicht die vom Badeschaum in Dezenz gekleidete Spitze der Brust, sondern das Handgelenk? Als Kourtney Kardashian, 39, eine sogenannte Realitydarstellerin, ihren Millionen Facebook-Fans Anfang der Woche ein Badewannenselfie enthüllte, empörte sich das Netz wie seit 1907 nicht mehr. Oder sagen wir: wie seit zwei oder drei Tagen nicht mehr. "Oh my God", kommentierte Pari Nader, "this is disgusting." Jemand empfiehlt: "Mit diesem Bein solltest du einen Arzt aufsuchen." Und die Bild-Zeitung spricht prompt vom "Photoshop-Fauxpas" des Jahres. Seit Limburg und den Tebartz-van-Elst'schen Wasserspielen hat keine Badewanne mehr die Öffentlichkeit derart erregt. Zu alledem ist unter dem inkriminierten Bildwerk auch noch zu lesen: "Love yourself as deeply as you love them."

Was ja auch wieder stimmt, lieben wir es doch seit jeher, die Kunst zu hassen, wo immer sie uns als seltsam fremd begegnet. Picasso, zum Beispiel, weiß das auch. Nachdem er in der ersten Jahreshälfte 1907 "Les Demoiselles d'Avignon" nach langer Vorbereitungszeit ausgeführt hatte, waren, so die Kunstgeschichte, "seine Freunde und Kollegen entsetzt ob des Ergebnisses. Sogar Braque äußerte sich skeptisch und verglich das Bild mit einem Schluck Petroleum, den man zu trinken bekommen hätte, um Feuer zu spucken." Der Kunsthändler Daniel-Henry Kahnweiler meinte später: "Das Bild, das er hier gemalt hat, erschien ihnen allen verrückt und monströs." Picasso müsse wohl sehr leiden in seiner "seelischen Einsamkeit". Doch immerhin sei der "unglaubliche Heroismus" auf seiner Seite. Der Kubismus erschütterte vor mehr als einhundert Jahren die Kunstwelt. Künstler wie Delaunay, Braque oder eben auch Picasso distanzierten sich von der Realität und destruierten deren Formsprache, zergliederten alles Körperliche, um das innerlich Geschaute neu zu konfigurieren - ohne das Diktat von Perspektive und Anatomie. Photoshopselfies sind also die Erben des Kubismus. Heute befinden sich die fünf nackten Maiden von Avignon, eigentlich sind es Prostituierte, im Museum of Modern Art in New York. Es hat lange gedauert, bis die Welt in den zersplittert nackten Körpern einen Wendepunkt der Kunstgeschichte erkannte - einen Geniestreich.

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SZ vom 23.03.2019
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