Süddeutsche Zeitung

Roland Sturm über Europa:Wir brauchen eine neue politische Rationalität

Lesezeit: 3 min

Von Werner Weidenfeld

Die Fragezeichen und Zweifel werden größer und intensiver: Kann diese Art von repräsentativer Demokratie eine Zukunft haben? Zu undurchsichtig sind die Entscheidungsprozesse, zu komplex die Sachverhalte. Die Politik begegnet den großen historischen Herausforderungen - von der neuen Völkerwanderung, der digitalen Revolution bis zum demografischen Umbau der Gesellschaft, von der terroristischen Existenzbedrohung bis zur neuen weltpolitischen Risikolandschaft - entweder mit situativem Krisenmanagement oder mit Ratlosigkeit.

Mit "Legitimationskrise" ist jener lähmende Mehltau zu beschreiben, der sich über die Republik gelegt hat. Und selbst ein so vorsichtig formulierender Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier sagt: "Die neue Faszination des Autoritären, die Anfechtung liberaler Errungenschaften, die Ressentiments gegen Parteien und Politiker, die wir auch in Europa erleben - all das bietet Anlass zu größter Sorge."

Die Dramatik des Orientierungsdefizits raubt vielen politisch Sensiblen und Besorgten geradezu den Atem. Deshalb greift man neugierig und gespannt zu einer Neuerscheinung aus der Feder des Politikprofessors Roland Sturm, die neue Sichtweisen auf die Politik verspricht: "Wie funktioniert Politik? Die Beweggründe des Politischen". Das wollte man doch schon immer genauer wissen.

Das Buch beginnt mit einer lapidaren Formulierung: "Regierung und Volk verstehen sich nicht mehr." Und dann folgen etliche Verweise auf besorgniserregende Phänomene: Zuschauerdemokratie, politische Parallelwelten, kopfschüttelndes Erstaunen, Zynismus gegenüber dem politischen Prozess. Wie soll man denn Politik begreifen, wenn es nicht mehr die traditionellen Verhaltensmuster, die herkömmlichen sozialen Bindungen gibt, sondern nur noch die fluiden Stimmungsmilieus? Große Fragen stellen sich im Blick auf diese aktuelle Komplexität, die nur noch als Zeitalter der Konfusion zu beschreiben ist.

Der Autor stellt die Frage nach einem Systembruch

Aber dann liefert Roland Sturm eine beachtliche Hilfe, diese Politik nun wirklich zu verstehen: Die politischen Akteure haben eine eigene komplexe Form der Realitätsverarbeitung erlernt, die der Autor "politische Rationalität" nennt. Und diese Kategorie spielt er dann in jeder Form, in jeder Facette, in jeder Nuance durch: Ämtererwerb als Priorität, strategische Kommunikation, der Faktor "Zeit", die Gestaltungskraft des juristisch geschulten Sachverstandes von Verwaltungen, das Wissen um politische Prozesse, die zielgruppenorientierten Begründungen machtpolitischer Bündnisse und Netzwerke, die Instrumentalisierung wissenschaftlichen Sachverstandes, der strategische Einsatz von Emotionen.

Die "Rationalität" als Schlüsselkategorie des Politischen weist also sehr viele Dimensionen auf. Dazu gehört auch die verdichtete Beziehung zwischen Journalismus und Politik in Berlin mit den sogenannten Hintergrundkreisen, die über amüsante Fantasienamen verfügen: "Gelbe Karte", "Brückenkreis", "das Rote Tuch", "die Millionäre", "die Käseglocke". Diese Methode wurde in der Bonner Version ja bereits sehr erfolgreich von Konrad Adenauer mit seinem legendären "Kanzler-Tee" praktiziert.

Roland Sturm verdeutlicht Details der verschiedenen Rationalitätspraktiken in Fallstudien: Föderalismusreform, soziale Marktwirtschaft und dann ausführlich die Organisationsrationalität der Europäischen Union. Der Autor kommt zu dem Schluss: "Wesentliche Änderungen der Logik von Politik bedürfen eines Systembruchs."

Wenn man der Argumentationskette des Buches in all seinen Rationalitätsfacetten bis dahin folgen kann, dann drängt sich aber nun die Frage auf, ob wir nicht politisch kulturell zur Zeit in einen solchen Bruch hineindriften: Der Abschied von den Volksparteien, die Konjunktur des Populismus, die Schärfung der Feindbilder, die drastische Reduzierung der Parteibindungen, die polarisierenden Spannungen - kurzum die Ablösung von Vertrauen durch Misstrauen. Es drängt sich die Erkenntnis auf: Das Buch beschreibt zutreffend die bisherige Ratio, gewissermaßen die "alte Rationalität". Aber die tief greifende kulturelle Veränderung verlangt nach einer "neuen Rationalität". Der Verlust an Orientierungssicherheit ist evident. Bisher bindende Interpretationen verlieren ihre ordnende Wirkung. Ohne Kompass und ohne Orientierung muss politische Kultur zum Glasperlenspiel verkommen.

Es gilt also, neue Begründungen als Haltepunkte zu liefern. Statt Populisten braucht die Demokratie gute Erklärer, die eine "neue Rationalität" erkennen und praktizieren. Wir sind in der politischen Sinngebung nicht Logenplatzinhaber, die gelangweilt und entspannt dem Drama auf der Bühne folgen. Nein - wir sind Teilhaber, Mitverantwortliche, wir sind Mitwirkende. Es gilt, Strategien, Deutungen und Zukunftsbilder zu liefern. Nur so ist der Bedarf an "neuer Rationalität" des Politischen zu befriedigen.

Werner Weidenfeld ist Direktor des Centrums für angewandte Politikforschung der Universität München und Rektor der Alma Mater Europaea der Europäischen Akademie der Wissenschaften und Künste (Salzburg).

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SZ vom 17.12.2018
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