Süddeutsche Zeitung

Retrokolumne:Punk und Dub

Lesezeit: 3 min

Zwei großartige, kraftstrotzende Neuauflagen: Das Frühwerk von Nina Hagen sowie Neneh Cherrys Debütalbum "Raw Like Sushi".

Von Jan Kedves

Wegen ihrer gottmächtigen Intoleranz gegenüber allem Bullshit-Gelaber wird Nina Hagen bis heute gerne als Schreckschraube missverstanden, was ungerecht ist, denn sie musste sich schon in sehr jungen Jahren in der DDR angewöhnen, "mit Lust und Vorsatz gegen die einherbretternde Dummheit der Normen" anzureden und anzusingen. Dass sie dafür sehr viel Mut aufbrachte und eben diese bis zur Penetranz stabile Aufrichtigkeit: Respekt! Und warum hätte sie sich diese Qualitäten wieder abtrainieren sollen, als sie, drüben im Westen, wieder auf Bullshit stieß - "denn die stalinistische Gleichschaltungsmaschine hatte dasselbe Betriebssystem wie die kapitalistische". Nur zwei Zitate aus Hagens hochunterhaltsamer Autobiografie "Bekenntnisse" (2010). Sie taugen vielleicht gut zur Einstimmung, wenn Sony Music in dieser Woche anlässlich von Hagens nahendem 65. Geburtstag ihr viel zu unbekanntes DDR-Frühwerk noch einmal zugänglich macht. "Was denn...? The Amiga Recordings" heißt die Kompilation, und ja, "Du hast den Farbfilm vergessen" ist natürlich mit dabei. Das kennt man noch. Der höchstens an der Oberfläche unschuldig herumschunkelnde Polka-Punk wurde 1974 in der DDR zum Hit, wobei man (zumindest als im Westen Geborener) nie ganz begreifen konnte, wie so etwas bei den DDR-Staatsorganen überhaupt durchgehen konnte. Der Song "atmet im Hintergrund das giftige Grau von Bitterfeld und die Tristesse von Leipzig" und erreicht sein Ziel, nach Schlager zu klingen, nur durch die Strategie "Schlager durch Zerstörung von Schlager" (alle O-Töne Hagens hier aus "Bekenntnisse"). Die anderen Hits heißen "Honigmann", "Hatschi-Waldera", "Das kommt, weil ich so schön bin". Auch sie zeugen nicht nur von Hagens herrrrlich flatterndem Dada-Punk-Organ, sondern auch von der brutalen Grätsche, die Hagen in der DDR hinbekommen musste zwischen ihrer eigentlichen Heimat (Roberta Flack, Rolling Stones, Janis Joplin, Punk!) und der Erwartung des Regimes, sie möge den "staatlich geprüften süßen Hintern wackeln und in den Pausen von grauen Bierfesten, graueren SED- und noch grauenhafteren FDJ-Veranstaltungen den ihr abverlangten geistigen Süßmüll absondern". Besonders toll auf dieser Kompilation ist nun ein Song, der auf vergleichbaren Sammlungen zuvor noch nicht dabei war: "Zieh die Schuhe aus", veröffentlicht kurz vor Hagens Rausschmiss aus der DDR im Dezember 1976. Begleitet vom leicht stolperigen Funkrock der Stern-Combo Meißen besingt Hagen hier ihre Ausbruchsfantasien aus dem "Schweinetrog" und die Langeweile im "Fünf-Tage-Wochen-Kaff". Das war also zu viel. Sie flog (was ihr nur recht war). Sie ging dann erst nach Hamburg zu Wolf Biermann, dann weiter nach London, wo sie ihre neue beste Freundin traf, Ari Up aus München, Chefin der Punkmädchen-Gruppe The Slits. So kam Hagen dann zum Dub und zum Reggae. Der Rest (etwa der unfassbare Hit "African Reggae", die Freundschaften zu Anthony Kiedis von den Red Hot Chilli Peppers und zum Modeschöpfer Jean Paul Gaultier) ist Pop-Geschichte. Nicht nur deutsche Pop-Geschichte. Hagens globaler Kultstatus wird bis heute stark unterschätzt.

Ob Hagen in London auch Neneh Cherry kennenlernte, ist nicht überliefert, aber gut möglich. Denn Cherry wohnte, als sie Ende der Siebzigerjahre mit 15 als Schulabbrecherin aus Schweden nach London zog, eine Weile mit der erwähnten Ari Up in einer WG zusammen. Und trat, wie Nina Hagen, mit The Slits auf. Die feministische Punk- und Reggae-Prägung ist aus Cherrys Debütalbum "Raw Like Sushi" (1989) deutlich herauszuhören. Das Album machte sie aus dem Stand zum Star und zur MTV-Ikone. Kein Wunder: Wie Cherry ihre Punk-Haltung und aggressiv-kieksigen Raps mit tollen Refrains zusammenbrachte, wie sie die gesampelten Beats aus der Dub- und Soundsystem-Kultur zur Grundlage von Charts-Pop machte, und wie sie dabei modisch auch noch voll auf der Höhe war, nämlich in den ultracoolen Looks der Londoner "Buffalo"-Kids: All dies ist 30 Jahre später nicht weniger großartig. Allein der Hit "Manchild". Der könnte im Zeitalter des Trumpismus kaum aktueller sein. Zum einen ist es eine Broken-Beat-Hymne auf einen männlichen Säugling (genauer: auf Cherrys damals gerade auf die Welt gekommenen Sohn Tyson), zugleich ist es eine Abrechnung mit dem Machismo, der die Welt geißelt und der auch diesen Jungen irgendwann konfrontieren wird. In dieser "30th Anniversary Edition" wird - wie das bei solchen Editionen so ist - auch noch der letzte Remix in seinen Dub- und Extended-Varianten mit dreingegeben. Komplettismus ist das Gegenteil von Qualitätssicherung. Wobei hier aber doch der "Nearly Neu Beat Mix" des New Yorker Produzenten Arthur Baker bezaubert. Er macht aus dem ruppigen "Buffalo Stance"-Hit etwas, das man heute Proto-Deep-House nennen würde. Das ist in seiner unerwarteten Zartheit total umwerfend.

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SZ vom 25.02.2020
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