Süddeutsche Zeitung

Rentnern gehört die Zukunft:Nicht leben und nicht sterben können

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Die Baby-Boomer kommen in die Jahre: In den USA tritt die gesündeste und wohlhabendste Seniorengeneration aller Zeiten ihren rundum-versorgten Ruhestand an.

ANDRIAN KREYE

In der amerikanischen Umgangssprache bezeichnet der Begriff Cameltoe eine Begleiterscheinung der Jugendmode - Beinkleider so eng zu tragen, dass sich die primären Geschlechtsorgane gegen den Stoff abzeichnen, was bei jungen Damen zu einem Effekt führen kann, der an besagten Kamelfuß erinnert. Die Brooklyner Electroclash-Gruppe Fannypack landete vor zwei Jahren mit einem Song darüber einen Sommerhit. Danach geriet die Cameltoe-Mode in Vergessenheit, bis Madonna vor einigen Wochen das Video zu ihrer Single ¸¸Sorry" veröffentlichte. Das zeigt die Popdiva in einem kamelfüßigen Aerobictrikot beim frivolen Spaß mit Knaben und Mädchen.

Noch etwa zwei Jahre hat Madonna, bevor sie, an ihrem 50., die Zielgruppe der 18- bis 49-jährigen hinter sich lässt, die von der Marketingbranche als stärkstes Konsumsegment und somit zum produktiven Kern der Gesellschaft erkoren wurde. Trotzdem wirkt ihr pädophiler Exhibitionismus in einer Lebensphase, in der sich viele ihrer Altersgenossinnen übers erste Enkelkind freuen, wie die unangenehme Übersteigerung jener verzweifelten Versuche so vieler Erwachsener, mit Popkultur und Trendsportarten den Prozess des Alterns zu bremsen. Und Madonnas Video ist beileibe nicht das einzige Beispiel. Da wirken die Sexszenen des 60-jährigen Steve Martin mit der 26-jährigen Clare Danes in der Verfilmung seines Romans ¸¸Shopgirl" noch erwachsen im Vergleich zur Besessenheit, mit welcher der 53-jährige Regisseur Gus van Sant und sein 62-jähriger Kollege Larry Clark in ihren Filmen um pubertäre Sexualität kreisen. Im neuesten Roman des 64-jährigen John Irving ¸¸Bis ich dich finde" muss man sich durch hunderte Seiten kindlicher Sexualerlebnisse quälen. Auch die Detailtreue, mit der der 75-jährige Tom Wolfe in ¸¸Ich bin Charlotte Simmons" eine Entjungferung beschreibt, machten es dem Leser schwer, sich nicht vom Altmännergeruch der Texte abschrecken zu lassen. Doch spätestens die Eindeutigkeit der Hüftschwünge, die der 62-jährige Mick Jagger vor einigen Wochen bei seinem Auftritt zur Halbzeit des Super Bowl vorführte, bestätigte, dass die Übersexualisierung älterer Herrschaften ein gesellschaftlich relevantes Massenphänomen ist.

Man wird sich an die virilen Senioren gewöhnen müssen, denn mit den so genannten ¸¸Babyboomers", den geburtenstarken Jahrgängen zwischen 1946 und 1964, beginnt eine Generation ihren Lebensabend, deren Werte auch im Alter noch von den gesellschaftlichen Umwälzungen der späten sechziger Jahre geprägt sind. Man sollte sich allerdings nicht auf die Seite von konservativen Kulturpessimisten wie William Strauss und David Howe schlagen, die das Erbe der Babyboomer in ihrer Generationenstudie ¸¸Millennials Rising" als eine Vulgarisierung der Kultur und des öffentlichen Diskurses, eine Zunahme an Kriminalität und Gewalt sowie einen allgemeinen Verfall der Gesellschaft beschreiben.

Was den Kulturkritikern Unbehagen bereitet, ist ein gesellschaftspolitischer Glücksfall, denn die kulturelle Virilität steht auf einer soliden Grundlage, die vielen allzu düsteren Prognosen vom Altern der geburtenstarken Jahrgänge den apokalyptischen Stachel nimmt. Noch nie war eine Generation bei ihrem Eintritt ins Rentenalter so wohlhabend und gesund wie die Babyboomer. Zu diesem Schluss kommt jedenfalls eine Untersuchung, die das amerikanische Bundesamt für Statistik letzte Woche veröffentlichte, 243 Seiten, unter dem schlichten Titel ¸¸65 + in the United States". Natürlich droht auch Amerika eine Überalterung - während 2003 noch 35,9 Millionen aller Amerikaner über 65 Jahre alt waren - 12 Prozent der Gesamtbevölkerung -, wird die Zahl zwischen 2010 und 2030 auf 72 Millionen steigen, das heißt 20 Prozent der Bevölkerung. Das deckt sich ungefähr mit den Raten in Deutschland, wo die Zahl der über 65-jährigen von 13,5 Millionen auf 21,8 Millionen steigen wird. Weltweit wird die Zahl bis 2030 von 420 auf 974 Millionen steigen.

Hoffnung machen jedoch die qualitativen Statistiken der Studie. So reduzierte sich der Anteil der über 65-jährigen, die in Armut leben, zwischen 1959 und 2003 von 35 auf zehn Prozent. Haushalte, die von Bürgern über 55 Jahren geführt werden, verfügen über den größten Wohlstand. Weil ein höherer Bildungsgrad statistisch immer mit einer besseren Volksgesundheit und einem allgemein höheren Lebensstandard einhergeht, lässt vor allem die Meldung hoffen, dass bis 2030 über 25 Prozent aller Senioren auch über eine höhere Schulbildung wie College oder Universität verfügen wollen.

Erste Anzeichen für eine Verbesserung der Volksgesundheit gibt es schon jetzt. Die Zahl der Todesfälle durch Herzkrankheiten und Lungenkrebs nimmt ab, nachdem ein höherer Bildungsgrad der Durchschnittsbevölkerung zu einem Rückgang der Raucherzahlen führt. Dazu kommt der enorme Sprung im allgemeinen Gesundheitsbewusstsein der Boomer und ihrer Nachfolgegenerationen, die sich im Allgemeinen besser ernähren und mehr Sport treiben.

Die Werbebranche hat die neue Seniorengeneration längst als Zielgruppe entdeckt, und im Fernsehen zeichnet sich der Paradigmenwechsel schon ab. Die traditionellen Seniorenprodukte werden zwar immer noch über das Ideal vom Rentnerleben voll sonniger Nachmittage am Kaffeetisch im Garten verkauft, die auch das Weltbild im deutschen Fernsehen bestimmen. Die alternden Babyboomer werden jedoch schon als Silver Generation geführt. Die gilt als unabhängig, aktiv, gesundheitsbewusst und konsumfreudig. Die American-Express-Tochter Ameriprise wirbt für ihre private Altersversorgung beispielsweise mit einem Werbespot, in dem zu den inbrünstigen Rockakkorden des Spencer-Davis-Klassikers ¸¸Gimme Some Loving" Bilder von Hippies und Anti-Vietnam-Demonstrationen mit Aufnahmen von rüstigen Rentnern beim Surfen und Feiern alternieren - die sechziger Jahre als große Party, die ewig weitergehen soll.

Nun drängen sich natürlich ein paar Fragen auf. Ist die Babyboomergeneration wirklich so reich und gesund, dass sie die sozialen Folgen einer drohenden Überalterung der Gesellschaft abfedern kann? Wird dieser Trend auch in Europa wirken, wo gesellschaftliche Phänomene aus den USA ja meist mit einer Verspätung von drei bis fünf Jahren ankommen? Ein paar aktuelle Entwicklungen sind in der Studie noch nicht berücksichtigt - das massive Aufklappen der Einkommensschere, der Niedergang der Lebensqualität, die sogenannte ¸¸Jobless Recovery" einer Konjunktur ohne neue Arbeitsplätze sowie die Sozial- und Steuerpolitik der Bushregierung, die schon jetzt dazu geführt haben, dass die soziale Mobilität vor allem abwärts führt. Neueinwanderer können sich inzwischen nur noch in Ausnahmefällen aus der Armut in den Mittelstand hocharbeiten, während der angestammte untere Mittelstand des Landes zunehmend verarmt. Während Bush die Renten Stück für Stück privatisieren will, propagieren die Versicherungskonzerne die Unabhängigkeit im Alter und den Lebensabend im Eigenheim oder im Kreise der Familie, weil Essen auf Rädern natürlich billiger ist, als ein Platz im Pflegeheim.

Auch im Servicebereich tut sich einiges. In den neuen Fernsehspots für die Billiglokalkette ¸¸Denny"s" werden die Sonderangebote von einer weißhaarigen Dame in der Kellnerinnenuniform der Kette angepriesen, die aussieht, als sollte sie sich in erster Linie Gedanken darüber machen, welche Schokoladensorte sie ihren Enkeln kauft, statt für 5,15 Dollar die Stunde schweres Frühstücksporzellan durchs Lokal zu tragen. Glaubt man der Statistik, ist die Generation der Babyboomer allerdings auch da im Vorteil. Wer so gesund ist wie sie, der kann ja bis ins Greisenalter seine volle Arbeitsleistung erbringen und so ebenfalls das soziale Netz entlasten.

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Quelle:
Quelle: Süddeutsche Zeitung Nr.66, Montag, den 20. März 2006
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