Süddeutsche Zeitung

Popkolumne:Klappernde Hirne

Lesezeit: 3 min

Grandiose neue Musik von Vagabon, DJ Spinn und Matana Roberts - sowie die Antwort auf die Frage, warum Pharrell Williams seinen Superhit "Blurred Lines" inzwischen doch eher sehr, sehr problematisch findet.

Von Julian Dörr

Als Laetitia Tamko alias Vagabon im Jahr 2017 ihr Debütalbum "Infinite Worlds" veröffentlichte, dauerte es nicht lange, bis begeisterte Kritikerinnen ihr eine gewaltige Bürde aufluden. Tamko, so der Tenor, sei die Frau, die die Welt des Indierock verändern würde. Die Geschichte hinter Vagabon war einfach zu gut. Eine junge Schwarze Frau, geboren und aufgewachsen in Kamerun, mit 13 Jahren nach New York übergesiedelt, studierte Informatikerin, hämmert der sehr weißen, sehr männlichen Gitarrenmusik ein paar frische Perspektiven ein. Die um Diversität und Gerechtigkeit bemühten (und sehr weißen und sehr männlichen) Popkritiker jubelten. Also alle happy? Nein. Der New York Times sagte Tamko damals, wie beengend es sei, so einen Titel angeheftet zu bekommen, "nur weil bislang sehr wenig Raum geschaffen wurde, in dem sich Menschen wie ich entfalten können". Soll heißen: Weil ihr selbst es nicht hinbekommt, eure sexistischen und rassistischen Strukturen anzugehen, muss ich als schwarze Frau jetzt den Karren aus dem Dreck ziehen? Es sind diese Sätze von damals, die einem wieder einfallen, wenn man Tamkos selbstbetiteltes zweites Album "Vagabon" (Nonesuch) hört. Denn es ist ein Befreiungsschlag. Die Gitarren sind beinahe ganz verschwunden, heruntergedimmt auf ein warm wummerndes Picking. Stattdessen ziehen Formationen aus Synthie- und Streicherwolken durch die Songs, die hier und da ganz sanft von einer Drummachine angeschubst werden. Vor allem aber ist da Tamkos Stimme, die sich Raum nimmt. Nach all den Jahren, in denen man sie gleichermaßen mit Erwartungen überhäuft und mit rassistischen Stereotypen klein gehalten hat. "All the women I meet are tired", singt Vagabon im verschleppten "Every Woman". Es wäre ein großer Fehler, diese Zeilen als Resignation zu lesen.

Eine kleine Empfehlung zur Linderung der Herbstmüdigkeit: Der amerikanische Produzent Morris Harper alias DJ Spinn veröffentlicht dieser Tage eine neue EP mit dem Namen "Da Life" (Hyperdub). Fünf Tracks, die in klassischer Footwork-Manier Pop-Melodiösität und Dauerfeuer-Claps, Hirn und Füße miteinander verschmelzen. Wer den Namen dieser House-Evolutionsstufe aus Chicago verstehen will, muss sich einfach nur ein paar Live-Mitschnitte und Dance-Battles auf Youtube anschauen. Ein Energy-Drink für die Seele, der einen locker bis zum nächsten Sommer-Rave trägt.

Matana Roberts ist Jazz-Saxophonistin, Visual-Arts-Künstlerin, Aktivistin und Experimentalmusikerin, vor allem aber ist sie eine Geschichtenerzählerin. Nun veröffentlicht sie mit "Coin Coin Chapter Four: Memphis" (Constellation) den vierten Teil eines auf zwölf Teile angelegten Großprojekts, in dem sie ihre Identität als afroamerikanische Frau ebenso aufarbeitet wie die Geschichte der Sklaverei. Auf ihrer Reise in die Vergangenheit entlang des Mississippi River ist sie nun in Memphis, Tennessee, angekommen. Wobei eine allzu konkrete Verortung hier nur irreführend ist. Roberts' Musik bewegt sich zwischen geschriebener Geschichte und kollektiver Überlieferung. Immer wieder durchbrechen persönliche Erzählungen in Form von Spoken-Word-Passagen ihre hektisch in alle Richtung davonstiebenden Kompositionen. Immer wieder tauchen in ihren Songs bekannte Versatzstücke auf, hier eine Bluesgitarre, da eine Folkfidel, wie eine Erinnerung, die sich kurz manifestiert, um dann sofort wieder im Chaos der rauschenden Gedenken zu versinken. Und dann ist da noch dieser eine Satz, der sich immer wieder aus der vermeintlichen Strukturlosigkeit schält: "Memory is the most unusual thing". Was bedeutet die Vergangenheit? Wer erinnert sie? Und wer erzählt sie? Ein unübersichtliches, komplexes, überforderndes Album, für eine Gegenwart, die bisweilen genau das ist.

Dass die Welt mitunter komplexer ist, als sie aus dem eigenen privilegierten Blickwinkel erscheint, hat nun auch Pharrell Williams gelernt. Zumindest ein bisschen. In einem Interview mit dem Männermagazin GQ distanzierte sich der Musiker von seinem Song "Blurred Lines", einer Kollaboration mit Robin Thicke aus dem Jahr 2013. Er hätte lange nicht verstanden, warum Lyrics wie "I know you want it" problematisch seien: "Frauen singen so was doch die ganze Zeit. Warum ist es etwas anderes, wenn ich das mache?" Nun habe er eingesehen, dass es dabei nicht um ihn gehe, sondern um die Gesellschaft: "Ich habe verstanden, dass wir in diesem Land in einer chauvinistischen Kultur leben. Das hab ich vorher nicht verstanden. Auch nicht, dass einige meiner Songs dem in die Hände spielen." Weiter so, Mr. Williams, einen Schulterklopfer gibt's dafür aber trotzdem nicht.

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Quelle:
SZ vom 16.10.2019
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