Süddeutsche Zeitung

Popkolumne:Billie Eilishs Glatze

Lesezeit: 3 min

Die vierfache Grammy-Gewinnerin gibt ein derart intelligentes Interview, dass man ihr erst eine Kuschelburg bauen will, aber dann merkt: Die schafft das alles ganz alleine.

Von Annett Scheffel

Eine Sache, die man über die gerade angebrochene Dekade jetzt schon sagen kann: Berechenbarer wird der ganze Irrsinn da draußen nicht werden. Gut, dass es deswegen wohl auch weiterhin Künstler geben wird, die versuchen dem etwas entgegen zu setzen - und wenn es eben nur ein vierminütiger Popsong ist. Einer, dem man das jederzeit zutraut, ist Damon Albarn, besonders wenn er sich wie jetzt für "Momentary Bliss" (Parlophone), der neuen Single seiner musikalisch-visuellen Comic-Konzept-Band Gorillaz, nicht nur das britische Punk-Duo Slaves ins Studio geholt hat, sondern vor allem den tollen, sozialrealistisch so korrekten wie wütenden UK-Rapper Slowthai. Der Song beginnt fast beschaulich, als schummrig-psychedelischer Synthie-Pop, dazu ein wippender Ska-Downbeat und der Gesang von Slaves-Sänger Laurie Vincent: "We could do so much better than this / Emotionally in fences and momentary bliss." Dann beginnt Slowthai zu rappen, dieser zornige Mann, der sich so herrlich über beschissenes Schulessen aufregen kann und über seine Generation, die sich wie eine Glühbirne ausknipsen lässt. Und man fragt sich: Wie geht das zusammen? Eine so ansteckende, affirmative Punk-Pop-Tanznummer aus einem Land, das einen Tag später aus der Europäischen Union austritt.

Mit "Supervision" (Supercolour) erscheint in dieser Woche endlich auch das neue Album von Elly Jackson alias La Roux. Nachdem der britischen Sängerin 2009 das Kunststück gelungen war, mit ihren Dance-Popsongs in der Indie-Gemeinschaft so beliebt zu sein wie im Mainstream, folgte nur noch ein einziges Album, das gut war, aber fast unbeachtet blieb. Eigentlich unnötig zu erwähnen, wie grundlegend sich die Popmusik seither verändert hat - würde man "Supervision" nicht so deutlich anhören, dass La Roux das Gegenteil der schnelllebigen, Streaming-optimierten Charts-Pop-Mechanismen im Blick hat: Elly Jackson lässt sich Zeit mit jedem einzelnen Song - fünf, sechs, sogar sieben Minuten - und lässt ihre geschmeidigen Soundwelten Stück für Stück entstehen. Das erinnert manchmal an Nile Rodgers oder den Michael Jackson der "Thriller"-Ära. Vor allem bewegt sich Jacksons Falsettgesang zwischen den 80er-Jahre-Synthies und Funk-Gitarren immer noch so agil und sehnsüchtig, als wäre seit 2009 praktisch keine Zeit vergangen.

Wie klingt es, wenn ein Psychedelic-Surfrock-Funk-Trio sich mit einem jungen Soul-Sänger zusammentut, dessen Songs so retro klingen, als wäre die goldene Ära von Aretha Franklin nie vorbeigegangen? Hören kann man das auf der EP "Texas Sun" (Dead Oceans/Columbia), einer Zusammenarbeit von Khruangbin und Leon Bridges. Die vier Songs sind wie eine Soul-Meditation zur Pedal-Steel-Gitarre. Für die texanische Landschaft mit ihren schnurgeraden Highways ist das quasi die optimale Fahrstuhlmusik: einschmeichelnd und warm texturiert, aber man kann auch schnell vergessen, dass sie überhauptda ist.

Für alle, die in diesen Tagen ein wenig mehr Antrieb brauchen, gibt es zum Glück die dystopische Disco-Musik von HMLTD. Das Debütalbum der Lodoner Band ist aus so erstaunlich vielen, raffiniert verzahnten Bestandteilen zusammengezimmert, dass man es eher als Art-Rock-Mixtape beschreiben muss: "West Of Eden" (Lucky Number) klingt nach Schweiß, Adrenalin und Glam, nach 70er-Jahre-Bowie, dem Gender-Bending von Frankie Goes to Hollywood und der Arschtritt-Energie von Fat White Family, die wie HMLTD der sehr lebendigen Szene in Südlondon entstammen. Ein greller Spaß.

Das Interview der Woche hat Superstar Billie Eilish der amerikanischen Vogue gegeben. Wunderbar abgeklärt, ehrlich und ernsthaft spricht die 18-Jährige, die gerade mit vier Grammys ausgezeichnet wurde, über toxische Körpernormen, ihr Leben unter den gierigen Blicken eines Millionenpublikums und die Angst davor zu einem Unglücksfall der Popindustrie zu werden: "Früher habe ich mich immer gefragt: 'Was zum Teufel ist los mit denen?' All diese Skandale. Der Britney-Moment. Als Heranwachsende denkt man, sie ist so schön, warum versaut sie sich das alles? Aber je berühmter ich werde, desto öfter denke ich: 'Wie bitte bekommt man es hin, das nicht zu tun?' Hin und wieder hatte ich Angst, auch die Nerven zu verlieren und mir den Kopf zu rasieren." Am liebsten möchte man der Sängerin nach diesen Worten eine Kuschelburg gegen die Welt bauen. Gleichzeitig ist man sich aber auch seltsam sicher: Sie schafft das allein.

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SZ vom 05.02.2020
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