Süddeutsche Zeitung

Popkolumne:Besinnungslosigkeiten

Lesezeit: 3 min

Neue Musik von Sido, Noel Gallagher, "rRoxymore" und "Tegan And Sara" - und die Antwort auf die Frage, was passiert, wenn sich Popstars noch einmal vornehmen, was sie als Anfänger für einen guten Reim hielten.

Von Jan Kedves

Ach, Midlife-Crisis-Rap kann schon der allerbeste Rap sein. Wenn er nämlich diese Schizophrenie zu fassen bekommt, wie es ist, wenn man im Leben mit nostalgischem Auge auf all die Exzesse, Brutalitäten und Besinnungslosigkeiten der Jugend zurückblickt, gleichzeitig aber auch feiert, dass aus dem früheren Ghetto-Prinzen und "Arschfickmann" inzwischen ein liebevoll-fürsorglicher Familienvater geworden ist, der im Speckgürtel von Berlin seine Söhne ins Bett bringt und ihnen geduldig ihre tausend kleinen Kinderfragen beantwortet ("Papa, wenn man den Himmel dreht, ist man dann über dem Regen?"). Genauso ist es auf Sidos unterhaltsamem achten Album "Ich & keine Maske" (Universal). Paul Hartmut Würdig schreibt jetzt, kurz vor 40, ergreifende Nüchternheits-Appelle wie "Melatonin". Im deutschen Rap hat es wohl noch keinen Song gegeben, der das Abrutschen aus einem lustig polytoxikomanen Partyleben in die Brutalität der Alkoholsucht so schonungslos beschreibt. Andererseits denkt sich Sido aber auch: Tempus fugit? Tempus fuck it! - und will in der superpoppigen Single "Leben vor dem Tod" mit Sänger Monchi von Feine Sahne Fischfilet noch einmal so richtig aufdrehen. "Ich mein', das Leben ist nicht immer falsch und richtig, aber gar nicht leben ist so richtig falsch, verstehste?"

Das Debütalbum der Woche kommt von Hermione Frank, einer Französin aus Montpellier, die in Berlin lebt. Unter dem Namen rRoxymore - nur echt mit kleinem r vorne und großem R danach! - spielt sie eklektische DJ-Sets und produziert intrikate elektronische Tracks. Schon ihre Remixe für Planningtorock und The Knife ließen aufhorchen, ihr Album "Face To Phase" (Don't Be Afraid Records) enthält tollen Techno ohne jegliches Funktionalitätsdiktat. Die Breaks sind interessant quer gesetzt, und die Melodien könnten Hooklines sein, scheinen aber nie ganz identisch wiederzukehren. Allein der Voodoo-House-Track "Forward Flamingo" ist grandios: Seine Bassdrum scheint durch einen düsteren Dschungel voller gefährlicher Tiere zu schreiten, und ja, wie weit sind eigentlich uralte okkulte Praktiken wie Voodoo entfernt von modernen elektronischen Dancefloor-Zeremonien? Nicht alles erschließt sich hier sofort, aber die Beine wollen mit.

Kanye West wird kommenden Freitag wohl ein neues Album veröffentlichen. Glaubt man einem Tweet seiner Ehefrau Kim Kardashian West, so soll es "Jesus Is King" heißen.

Eine Woche ist es her, dass Liam Gallagher sein neues, durchwachsenes Soloalbum "Why Me? Why Not." veröffentlichte. Bruder Noel Gallagher liefert diese Woche mit seinen High Flying Birds eine neue, durchwachsene EP: "This Is The Place" (Sour Mash). Auf ihr frönt der frühere Oasis-Chef-Songschreiber seiner Faszination für Spiralpupillen-Rave-Rock, wie er 1989/1990, also zu Zeiten des zweiten "Summer of Love" in Großbritannien von Pillenfreunden wie den Happy Mondays oder den Soup Dragons gespielt wurde. Nette Idee. Aber aus "Evil Flower" kann selbst der Londoner Remix-Maestro The Reflex keinen guten Song mehr zaubern. Und im Titelstück singt Noel fast wie Chris Martin von Coldplay. Herrje.

Die Zwillinge Tegan And Sara, Nachname Quin, haben gerade ihre Autobiografie "High School" veröffentlicht. In der erzählen sie, wie es war, als eineiiges lesbisches Schwesternpaar durch die Teenagerzeit zu gehen und dann das Musikmachen, genauer: Indie-Pop und Indie-Rock, als Ventil für sich zu entdecken. In Deutschland sind die beiden bislang ja noch nicht so richtig bekannt geworden, auch wenn sie von Neil Young protegiert wurden, längst über eine Million Alben verkauft haben, für einen Grammy nominiert waren und so weiter. Parallel zum Buch erscheint auch ein neues Album, "Hey I'm Just Like You" (Warner). Auf dem nehmen sich die beiden mit 39 noch einmal Songs vor, die sie als Teenagerinnen schrieben und die dann 20 Jahre lang irgendwo auf einer Kassette verstaubten. Wie das eben so ist, wenn man noch einmal nachhört, was man früher für einen cleveren Reim hielt: "I needed a place to rest my head, needed a place to make my bed" (im Song "Please Help Me"). Aber diese totale, ungebrochene Ehrlichkeit der High-School-Tagebuch-Lyrik ist natürlich auch immer wieder ganz rührend. Und wenn dann das Endorphin-Überschwangs-Songwriting hinzukommt, auf das die beiden sich doch sehr verstehen, kann man eigentlich gar nicht anders, als gute Laune zu bekommen. Obwohl das beschriebene Leben, damals, ja eher die Hölle war.

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SZ vom 25.09.2019
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