Süddeutsche Zeitung

Pop:Es ist bloß kein Rock 'n' Roll

Lesezeit: 4 min

Die Londoner Saatchi Gallery zeigt eine große Rolling-Stones-Ausstellung, die alle Fragen zur Band beantworten will - außer die unangenehmen.

Von Alexander Menden

Am 8. März 1979 schrieb der Lehrerverband Michigan Education Association dem Musikproduzenten Ahmet Ertegün einen Brief. Man sei darauf aufmerksam geworden, dass Ertegün den Song "Some Girls" vertreibe, "geschrieben und produziert von Mick Jagger und den Rolling Stones": "Wir finden diesen Song in hohem Maße anstößig", steht da, "und drücken hiermit unsere tiefe Empörung aus über die Verletzung, Beleidigung und Erniedrigung von Frauen, insbesondere einer ethnischen Minderheit angehörenden Frauen, die dieser Song darstellt." Ertegün möge doch bitte im Interesse menschlicher Würde den Vertrieb dieses "moralisch verwerflichen Songs" einstellen.

Der Brief ist derzeit in der Londoner Saatchi Gallery ausgestellt, gleich neben dem handgeschriebenen Original der inkriminierten Lyrics. Man darf annehmen, dass speziell die Zeilen "Black girls just wanna get fucked all night / I just don't have that much jam" den Zorn der Lehrer von Michigan auf sich zogen. (Sie übersahen dabei übrigens geflissentlich, dass Jagger sein eigenes mangelndes sexuelles Stehvermögen eingestand.) Einerseits hat das handgetippte Dokument etwas Rührendes, weil es so weit entfernt ist von den Twitter-Shitstorms, die politisch inkorrekte Liedtexte heute binnen Minuten auszulösen pflegen. Andererseits dient er in der Londoner Rolling-Stones-Ausstellung "Exhibitionism" sicher nicht zuletzt als Beleg dafür, dass die "größte Rock-'n'-Roll-Band aller Zeiten" auch 1979 - da schon eine reine Stadionband - noch immer bürgerliche Empörungsreflexe auslösen konnte.

Sogar die erste Bandwohnung wurde originalgetreu nachgebaut

Es ist eben nicht leicht, als Band von der Größe und Bedeutung der Rolling Stones nicht im eigenen Mythos zu erstarren. Eine museal polierte Memorabilien-Sammlung hilft jedenfalls eher nicht, das Bad-Boy-Image zu pflegen. Aber der immense, vor allem finanzielle Erfolg der Schau "David Bowie Is" im Victoria & Albert Museum vor drei Jahren mag die Stones auf die Idee gebracht haben, ihre eigene Superausstellung kuratieren zu lassen, auch wenn das kein Rock 'n' Roll ist. Poster, Kostüme, Filme, Fotos, Instrumente mit Gebrauchsspuren - von all dem besitzen sie, die ja länger im Geschäft sind als irgendwer sonst, Unmengen. Und die nicht immer so stark frequentierte Saatchi-Galerie in Chelsea, die dafür ihre Räume zur Verfügung stellt, freut sich über die überdurchschnittlich hohen Besucherzahlen.

Wer irgendetwas über die Dynamik innerhalb der Band zu erfahren hofft, über die Entwicklung des komplexen kollegialen Verhältnisses zwischen Jagger und Richards zum Beispiel, oder gar über deren Konflikte, sollte sich die 20,50 Pfund Eintritt sparen. Auch wenig erfreuliche, aber popkulturell bedeutende Aspekte wie das Altamont-Desaster 1969 kommen (abgesehen von einem Filmposter zu "Gimme Shelter") nicht vor. "Exhibitionism" ist in dieser Hinsicht kein bisschen exhibitionistisch, nicht einmal sacht erhellend. Da leistete sogar die viel nüchternere Fotoausstellung im Somerset House 2012 mehr.

Man darf aber ohnehin davon ausgehen, dass die Mehrheit derjenigen, die in die King's Road pilgern, das vor allem zum Zwecke der Huldigung tun. Und da gibt es reichlich was auf Augen und Ohren: Gleich zu Beginn rast auf etwa 50 mosaikartig aneinandergefügten Flachbildschirmen die Bandhistorie an einem vorbei. Jeder Raum ist angefüllt mit einem ständig wechselnden Klangteppich aus Songfetzen, Statements der Bandmitglieder und, je nach Zusammenhang, Kommentaren von Bluesmusikern, Regisseuren wie Martin Scorsese oder Kostümexperten.

Was "Exhibitionism" suggerieren will, ist absolute Authentizität, ein Heranrücken an Stars, die kaum weiter entfernt sein könnten. Das führen besonders die detailliert kopierten Schauplätze ihrer Karriere vor Augen. Wer noch nie einen Backstage-Bereich gesehen hat, kann die Stapel metallbeschlagener Kisten bestaunen, die im vorletzten Raum der Schau naturgetreu wie hinter einer Bühne arrangiert sind, gegenüber einer langen Reihe von Gitarren und neben einem Make-up-Zelt mit Spiegelchen, Getränken und einem Inhaliergerät. Ein Aufnahmestudio mit beschrifteten Instrumenten kann der Besucher ebenfalls in Augenschein nehmen.

Am erstaunlichsten in seiner Realitätsversessenheit ist allerdings der Nachbau der Wohnung in 102 Edith Grove, in die Jagger, Richards und Brian Jones im Sommer 1962 zogen, nur zwei Kilometer westlich von dort, wo heute die Saatchi Gallery ist: die ungemachten Betten, die schmuddelige Küche mit ihren Geschirrstapeln, die überquellenden Aschenbecher, der sich durch die Tapete fressende Pilz - alles ist nachempfunden. Was fehlt, ist der Gestank, der damals dort geherrscht haben muss, und gerade das macht das Ganze zu einer solch seltsam aseptischen Staffage.

Faszinierend (und endlich richtig exhibitionistisch) wird es vor allem dann, wenn es um die Show geht. Ein ganzer Saal ist den Bühnenkostümen seit den frühen Sechzigern gewidmet. Musikalisch seit einem halben Jahrhundert mehr oder minder unverändert, waren die Rolling Stones, und besonders Jagger, in Sachen Mode schon vor dem Pop-Chamäleon Bowie unerreicht darin, einen Trend zu setzen und ihn sofort wieder hinter sich zu lassen. Charlie Watts' blau-grün karierter Anzug von 1966, Jaggers unglaubliche, nabelfreie Samt-Einteiler mit schön eng geschnittenem Schritt aus den frühen Siebzigern, sein lederner Frack von der Steel-Wheels-Tour 1989 oder der von Hedi Slimane diabolisch gut geschnittene Satinmantel von 2002 - all das wäre eine eigene Ausstellung wert. Mick Jagger wird im Katalog mit der Einsicht zitiert: "Es ist sinnlos, sich großartig aufzubrezeln, wenn man in einem Club mit 500 Plätzen auftritt. Und wenn man für 50 000 Leute spielt, ist es sinnlos, irgendwelche Fetzen zu tragen." Maßstabsgetreue Modelle der immer gigantomanischer werdenden Bühnenaufbauten erinnern daran, zu welcher Kategorie die "größte Band" in Sachen Publikumszahlen seit Jahrzehnten gehört.

Ganz zum Schluss bekommt jeder Besucher noch eine 3-D-Brille und kann einem spektakulär abgefilmten Auftritt der Band in Argentinien virtuell beiwohnen. Mehr Hightech geht nicht. Wer noch kein Rolling-Stones-Fan ist, wird zwar trotz der materiellen Überwältigungsstrategie von "Exhibitionism" sicher auch keiner werden. Wer aber schon als Fan herkommt, dürfte spätestens nach dem dreidimensionalen Ersatzgig befriedigt abziehen.

"Exhibitionism - The Rolling Stones" in der Saatchi Gallery, London, bis 4. September. Info: www.saatchigallery.com, Katalog 30 Pfund.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.2947916
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 14.04.2016
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.