Süddeutsche Zeitung

Pop:15 Minuten Anonymität

Wer seine Identität nicht preisgeben muss, formuliert ungefilterter. Im Pop sind Masken wie sie Cro, Sido und Daft Punk tragen, aber vor allem eines: gute PR.

Von Jakob Biazza

Der Sänger Peter Gabriel, einst selbst ein höchst ambitionierter Verkleider, hält die Geschichte der Maskierung in den westlichen Gesellschaften für ein großes Missverständnis: "Wir vermuten immer, hinter Masken werde etwas versteckt. In den meisten anderen Kulturen hält man sie für etwas, das Dinge erst hervorbringt", sagte er einmal. Und er hat ja recht. Masken können im Pop tatsächlich zum Mittel künstlerischer Befreiung werden.

Man kennt den Mechanismus etwa aus dem Netz: Wer seine Identität nicht preisgeben muss, formuliert ungefilterter. Der Künstler kann also, durch die Anonymität (oder eine eingenommene Rolle) befreit, womöglich eine Stimme finden, die seiner genuinen am nächsten kommt. Zudem trennt so eine Maske besonders effektiv die Person von der Persona, erlaubt es also auch dem Fan, eine Kunstfigur anzuhimmeln, ohne sich fragen zu müssen, ob der Star am Ende dieselben weltlichen Probleme (Haarspliss, unerzogene Kinder, Steuererklärung) wie man selbst hat.

Andererseits gibt es im Pop wenig, das nicht wenigstens auch Pose oder Gimmick ist. Wenn also Künstler wie Gabriel, Daft Punk oder SBTRKT ihre Identität verhüllen, wenn Slipknot, Sido, Tyler, the Creator, Cro, MF Doom oder Deadmau5 ihre Gesichter verbergen, um besonders gefährlich, mysteriös, abstoßend oder niedlich zu wirken, dann ist das auch einfach gute PR. Es zahlt auf den Umstand ein, dass Anonymität wenigstens eine Zeit lang der neue Ruhm war. Oder um es mit dem anonymen Großkünstler Banksy zu sagen: "In the future, everyone will be anonymous for 15 minutes."

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Quelle:
SZ vom 25.04.2020
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