Süddeutsche Zeitung

Politische Gewalt:Terror und Tabu

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Von Sonja Zekri

Als sich vor ein paar Jahren die ersten Terroranschläge auf europäischem Boden ereigneten, las man auch in wissenschaftlichen Abhandlungen, die Gewalt sei "heimgekehrt", sie sei "zurück". Als habe es in Europa und vor allem in Westdeutschland längere Zeit keine nennenswerte Gewalt gegeben, als werde der islamistische Terrorismus reimportiert, obwohl die Familien mancher Attentäter seit Generationen in Paris, Molenbeek oder im Sauerland gelebt hatten.

Am vergangenen Freitag wurden in sechs Bundesländern zwölf Männer der militanten rechtsextremen "Gruppe S." festgenommen, die Äxte, Schwerter, Goldbarren und Pistolen gehortet hatten, um durch Anschläge auf Politiker, Muslime und Flüchtlinge "bürgerkriegsähnliche Zustände" heraufzubeschwören. Einer von ihnen war ein Verwaltungsmitarbeiter der nordrhein-westfälischen Polizei. Aber wenn Innenminister Horst Seehofer Wachsamkeit versprach angesichts dessen, "was sich da in Deutschland zusammenbraut", dann schwang da - NSU hin, Lübcke her - immer noch Überrumpelung mit: Damit war nicht zu rechnen.

Selbsttäuschung kann einen segensreichen Effekt haben. Wer von sich selbst nur Schmeichelhaftes annimmt, eifert dem positiven Selbstbild vielleicht noch etwas engagierter nach. Die Annahme der Deutschen, sie lebten in einer weitgehend gewaltfreien Gesellschaft, stößt aber inzwischen an ihre Grenzen. Dabei mangelt es nicht an Bemühungen. In der Beschreibung extremer Verbrechen - seien es Attentate, Vergewaltigungen, oder, die gegenwärtig schlimmste Form der Gewalt: Kindesmissbrauch - ist früher oder später die Rede davon, dass der Täter "krank", "abartig" oder "gestört" sei, die Tat "unbeschreiblich", "unvorstellbar", "unbegreiflich". Handelt es sich um Verbrechen von Islamisten, lassen sich die Verbrechen und Verbrecher noch leichter exotisieren. Wer nie dazugehörte, ganz gleich, wo er geboren ist, kann den Zusammenhalt einer Gemeinschaft ohnehin nicht infrage stellen. Gewalt als Konstante menschlicher Existenz aber, als abrufbare "Jedermanns-Ressource", wie es der Soziologe Heinrich Popitz nannte, spielt bei all diesen Erklärungsversuchen keine Rolle.

Der Effekt ist paradox. Je geringer die alltägliche Gewalterfahrung der Einzelnen, desto umfassender wird der Anspruch der Gewaltfreiheit - auf das Zusammenleben zwischen Männern und Frauen, Eltern und Kindern, Schule, den Umgang mit Minderheiten, Sprache, Tiere, selbst Pflanzen - und desto feinfühliger reagieren die Menschen auf Verletzungen des Gewalttabus. Brennende Autoreifen am 1. Mai oder die Drogendealer am Kottbusser Tor in Berlin werden nicht mehr als unerfreuliche Seiten des Hauptstadtlebens betrachtet, sondern als Zusammenbruch der staatlichen Fürsorgepflicht.

Die Moderne erzeugt Subjekte, denen die eigene Gewaltfähigkeit fremd wird

Es ist nicht erstaunlich, sondern historisch nachvollziehbar, dass diese Entwicklung in kaum einem Land so auf die Spitze getrieben wurde wie in Deutschland. In beiden deutschen Staaten wurde lange, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen, das "Nie wieder" nach Auschwitz nicht nur als Handlungsaufforderung begriffen, sondern auch als hoffnungsfrohe Zustandsbeschreibung. Was damals geschehen war, durfte nicht nur nie wieder geschehen, es konnte auch nie wieder geschehen. Das war - trotz aller sonstigen Unterschiede - Konsens in Staat und Gesellschaft. Die Geißel der Gewalt schien überwindbar. Und lange, glückliche Nachwendejahre konnten sich die Deutschen durchaus der Überzeugung hingeben, sie hätten sie überwunden. Bürgerkriege, Folter, Völkermord, Aufstände, öffentliche Hinrichtungen und andere extreme Formen des Tötens und Mordens fanden sich in anderen Ländern, deren Grad der Rückständigkeit im direkten Verhältnis zur Dimension extremer Gewaltausübung gemessen wurde. Die Moderne hatte Werte wie Menschenwürde, körperliche Unversehrtheit und rationales, regelbasiertes Zusammenleben nicht ihrerseits hervorgebracht - sie bestand in ihrem Wesenskern aus diesen Werten. Das blieb nicht ohne Folgen. Die Soziologin Teresa Koloma Beck hat beschrieben, wie die Moderne Subjekte erzeugt, "denen die eigene Gewaltfähigkeit zunehmend fremd wird, weil sie im Kontrast zu Idealen der Vernunft und der Affektkontrolle steht".

Die einzige Rechtfertigung für die Ausübung von Gewalt, so Beck, bestehe deshalb im Schutz, in der Verteidigung oder Wiederherstellung der "(Wert-)Ordnung der Moderne selbst". Dass kurz vor dem US-Einmarsch in Afghanistan plötzlich die Unterdrückung der afghanischen Frauen ein ganz großes Thema wurde, dass Invasionen oder Drohnenangriffe nie als Angriffe, sondern fast immer als Rettungsaktionen präsentiert werden, erklärt sich aus diesen Legitimationsschwierigkeiten.

Die Abscheu vor politischer Gewalt taugt nur zum schönen Gemeinschaftserlebnis

Dass dies nur um den Preis der Heuchelei zu haben ist, dass ferngesteuerte Waffen und eine technisierte Sprache ("Schutzverantwortung", "Friedensmission") das Handwerk des Tötens verbergen sollen, wäre hinnehmbar. Schlimmer ist, dass die moralische Entrüstung über jede Art der Gewalt es unmöglich macht, sie als das zu begreifen, was sie auch ist: Kommunikation.

In anderen, weniger friedlichen Weltgegenden ist es eben nicht "unbegreiflich", zu töten oder zu sterben, um politische oder ideologische Ziele zu erreichen. Für die ägyptischen Muslimbrüder, die jahrzehntelang verfolgt wurden, während ihre Anführer in Kerkern schmorten, war die erlittene Unterdrückung nach dem Sturz Hosni Mubaraks ein gewaltiges politisches Kapital: Niemand war unverdächtiger, mit dem System kollaboriert zu haben. Als sie nach einem Jahr an der Macht gewaltsam abgesetzt wurden, zogen sie sich in Zeltlager zurück, die - wie erwartet - brutal geräumt wurden. In wenigen Tagen starben 900 Menschen, eine Tragödie, die vermeidbar gewesen wäre, aber die die Islamisten bewusst in Kauf genommen hatten, weil die langfristige Reputation als Märtyrer politisch mit einem Verhandlungserfolg nicht vergleichbar war. Politische Gewalt kann entsetzliche Ausmaße annehmen, aber sie ist selten irrational. Auch ein Völkermord ist mehr als nur ein Blutrausch.

Nichts von alldem ist wünschenswert, und eine Erklärung ist keine Rechtfertigung. Aber die Aufdeckung rechtsextremer Terrorzellen, die politischen Vorstöße der AfD, die rhetorischen Grenzverschiebungen, die neue Sagbarkeit des bislang Unsagbaren erzwingen einen neuen Realitätssinn. Die Abscheu über politische Gewalt oder eine aggressive Politik mag schöne Gemeinschaftserlebnisse bringen. Als Mittel der Auseinandersetzung taugt sie nicht. Nur eine Gesellschaft, die ihre Gewaltfähigkeit kennt, fällt nicht auf ihr eigenes schmeichelhaftes Selbstbild herein.

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Quelle:
SZ vom 19.02.2020
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