Süddeutsche Zeitung

Kunst:Ästhetik des Widerstands

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Die Kunst gibt sich gerade massiv politisch. Das hat viele Gründe, auch diesen: Geschlossene Galerien, keine Messen.

Von Catrin Lorch

Die Dame, die mit ihrem Protestplakat durch das Berliner Regierungsviertel zieht, ist nicht irgendwer: Adrian Piper, die für die Verkleinerung von deutschen Schulklassen und Seminargruppen demonstriert, ist eine der bekanntesten und einflussreichsten Künstlerinnen der Welt, ausgezeichnet unter anderem mit einen Goldenen Löwen in Venedig. Tatsächlich gehört bei der Amerikanerin die Politik schon immer zur Kunst - seit Jahrzehnten beschäftigt sich Adrian Piper mit Rassismus oder Frauenfeindlichkeit.

Doch auch andere Stars der Szene weisen derzeit nicht nur in ihrer Kunst auf politische Missstände hin, sondern engagieren sich ganz direkt. Die Ausstellung "Down to Earth", die Tino Sehgal im vergangenen Sommer im Berliner Gropius-Bau kuratierte, sollte vor allem beweisen, dass Museen auch klimafreundlich arbeiten können. Und Wolfgang Tillmans initiierte während des ersten Lockdowns gemeinsam mit anderen Künstlern - darunter Andreas Gursky, Marlene Dumas und Nicole Eisenman - die Posterserie "2020 Solidarity", deren Erlös lokalen Clubs, Buchläden, Plattenlabels oder unabhängigen Bühnen zugutekam, die in der Pandemie von der Schließung bedroht sind.

Der Aktivismus der Kunstszene ist derzeit unübersehbar. Ob man in Hochglanzmagazinen wie Artforum blättert, Twitter folgt oder den Nachrichten auf Websites wie Hyperallergic - zurzeit geht es weniger um Formfragen, Stile oder neue Medien, die sich die Kunst erschließt. Diskutiert wird, ob ein Ölmulti wie BP nach Künstlerprotesten als Sponsor noch tragbar ist oder der von der amerikanischen Fotografin Nan Goldin angeführte Boykott der Mäzenatendynastie Sackler dauerhafte Folgen zeigt.

Derzeit ziehen Themen in die Kunst ein, die mehr sind als Sujets

Dass Künstler gemeinsam einen gewaltigen Einfluss nehmen können auf die Politik so großer Häuser wie der britischen Tate Gallery, dem Museum of Modern Art oder dem Metropolitan Museum in New York, führt zu ganz neuen Konstellationen. Die Pressure-Groups, die sich da zusammenfinden, haben nichts mehr zu tun mit klassischen Gruppierungen wie den Surrealisten oder Vertretern des abstrakten Expressionismus, denen es vor allem um die Durchsetzung von Stilen oder um ästhetische Manifestationen ging. Und es ist unübersehbar, dass vor allem der Nachwuchs sich ungezwungen auch gleich von der Rolle des einsam in seinem Atelier um Ausdruck ringenden Genies und dem damit verbundenen Konkurrenzdruck verabschiedet.

Das belegt - überraschenderweise - ausgerechnet der britische Turner-Preis. Dieser gilt als eine der bedeutendsten und populärsten Auszeichnungen weltweit und hat in der Vergangenheit mit Trägern wie Gillian Wearing, Damien Hirst und Douglas Gordon eine ganze Generation britischer Künstler durchgesetzt, am Markt und in den Medien. Doch auf den Listen der Nominierten tauchen seit einiger Zeit auch Namen wie die Otolith Group oder Forensic Architecture auf, die ihre Fähigkeiten als Künstler, Architekten, Wissenschaftler und Gestalter programmatisch in den Dienst der Aufklärung von politisch brisanten Vorgängen stellen. So rollte Forensic Architecture für die Documenta 14 noch einmal den Kasseler NSU-Mord auf. Die Vergabe der Kunsttrophäe an die Architekten von Assemble (für ein Sozialbau-Projekt) passte in die Entwicklung, genauso wie der Entschluss aller zuletzt Nominierten, sich kurz vor der Preisverleihung zu einer Gruppe zusammenzuschließen und das Preisgeld, immerhin 40 000 Pfund, zu stiften.

In diesem Jahr, so gab es die Jury kürzlich bekannt, sind nur noch Kollektive nominiert. Kaum auszurechnen, wie viele Künstler zu den insgesamt fünf Gruppen zählen, die es als künstlerische Aufgabe verstehen, sich beispielsweise in Nordirland für Abtreibung einzusetzen (Array Collective), der afrikanischen Diaspora in Großbritannien eine Stimme zu verleihen (Black Obsidian Sound System) oder wie das britische Duo Cooking Sections zu fragen, wie man in Zeiten des Klimawandels essen werde, um als Vision schon einmal künstliche Austernriffe zu skizzieren. Damit ziehen Themen in die Kunst ein, die mehr sind als Sujets. Wer diese Kunst ästhetisch diskutiert, muss ihre Anliegen genauso überprüfen, wie die künstlerischen Mittel - sei es ein Flashmob, eine Dokumentation, ein Protestschreiben oder ein Kochbuch.

Und diese Künstlergruppen sind keine Außenseiter: Wenn man die Kunstszene in ihrer aktuellen Hierarchie beschreiben wollte, dann steht auch an der Spitze ein aktivistisches Kollektiv, die Gruppe Ruangrupa aus dem indonesischen Jakarta, die als künstlerische Leitung die nächste Ausgabe der Weltkunstausstellung in Kassel verantworten wird. Und die bislang anstelle von einführenden Debatten mit Künstlern oder Theoretikern allmonatlich Diskussionen zwischen Bio-Reisbauern und asiatischen Graswurzelaktivisten ins Netz stellt. Am anderen Ende der Szene wäre dann vielleicht die junge, hochbegabte Malerin zu nennen, die gerade ihre Meisterklasse an einer Eliteuniversität beendet und dennoch überlegt, ob sie die Staffelei einfalten und sich eine Unterwasserkamera zulegen sollte - um im Stil von Forensic Architecture zu künstlerischen Recherchen aufzubrechen.

Für B.O.S.S ist die Kulturindustrie eine Form der Ausnutzung von "Schwarzen, Braunen, Arbeitern, Queeren und Behinderten", um die man sich nicht wirklich kümmere

Sind das Entwicklungen, die unruhigen politischen Zeiten geschuldet sind? Oder werden die Dokumentationen solcher künstlerischen Aufbrüche eines Tages Eingang finden in die Kunstgeschichte, in die Sammlungen großer Museen - als die Avantgarde der Zwanzigerjahre, die einen grundlegenden Wandel im Verständnis der Kunst von ihren Aufgaben anzeigt. Werden die vielgesichtigen Gruppen, die heute das Verständnis von Kunst und der Rolle der Künstler mutig ausdehnen, auch gemeinsam in den Akademien die Klassen übernehmen?

Dass die politische Kunst, dass Proteste und Kollektive derzeit in der Öffentlichkeit viel Aufmerksamkeit erfahren, hat auch damit zu tun, dass der sonst so dominante Kunstmarkt in Zeiten der Pandemie wenig dagegenzusetzen hat. Es gibt - abgesehen von den Aufregungen um NFT und Auktionen, die in Bitcoin berechnet werden - kaum Versteigerungen mit Rekorderlösen zu vermelden. Die Galerien halten sich mit Neuproduktionen zurück, und die bedeutenden Kunstmessen (die Art Basel, die Frieze in London oder die Pariser FIAC) werden sich nicht vor dem Herbst zurückmelden mit dem ganzen Rummel aus Skandalen, Diskussionen, Gerüchten, Preisen - und vor allem den neuen, heißen Namen, die für Sammler zu Marken aufgebaut werden.

In der Vergangenheit gehörten die vielgesichtigen Kollektive nicht dazu. Und - auch das beweist die Shortlist des Turner-Preises gerade - sie wollen das vielleicht auch gar nicht: Kaum nominiert meldete sich das Black Obsidian Sound System (B.O.S.S.) mit höflichem Dank und heftiger Kritik an die den Preis ausrichtende Tate Gallery. B.O.S.S. wiesen darauf hin, dass das Londoner Museum nicht nur fragwürdig mit "Me Too"-Vorwürfen umgegangen sei, sondern auch in den vergangenen zwölf Monaten die Zahl seiner Mitarbeiter hart gekürzt habe. Und überhaupt sei die Kulturindustrie, insbesondere das System der Kunstpreise, eine Form der Ausnutzung von "Schwarzen, Braunen, Arbeitern, Queeren und Behinderten", um die man sich nicht wirklich kümmere. Danke, sagt B.O.S.S. damit sehr deutlich, ob wir in der Kunst eine große Nummer sind, das habt ihr Museen und Preisjurys vielleicht gar nicht mehr zu entscheiden.

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