Süddeutsche Zeitung

Phrasenmäher:Wirklich

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Ständig erfährt man irgendwo, wie es "wirklich" gewesen ist. "Wie extrem ist der Winter wirklich?" Reicht das, was man vorher wußte, nicht mehr? War das nur schlunziges Minderwissen? Und wenn das so ist, warum soll dann jetzt plötzlich alles "wirklich" sein?

Von Alex Rühle

Drei Überschriften aus den vergangenen Tagen: "Was wir wirklich über das Artensterben wissen", "Kampf gegen den Borkenkäfer: Was wirklich hilft" und "Wie extrem ist der Winter wirklich?" Unabhängig von den Hintergründen der jeweiligen Texte scheint im Journalismus eine Sehnsucht nach Wirklichkeits- oder Faktizitätssteigerung aufzukommen: "Wirklich" wäre demnach eine Art Komparativ 2.0. Schließlich wussten wir ja auch bisher schon dies und das über das Artensterben. Anscheinend war das aber alles eher so ein schlunziges Minderwissen. Und wir hätten bislang auch vermutet, dass Dinge, die gegen irgendetwas "helfen", das wirklich tun. Vielleicht sollte man aber von jetzt an jedes Mal, wenn man sich Medizin holt, den Apotheker doch noch mal streng befragen: Guter Mann, Sie sagen, dieses Mittel hilft.

Aber hilft es nur oder hilft es wirklich? Muss die Wahrheit "wirklich" solcherart aufgesext werden? Wird durch diese rhetorische Aufrüstung nicht vielleicht eher das Gegenteil erzielt? Wenn alle bisherigen Behauptungen anscheinend nicht gestimmt haben, wer sagt mir denn dann, dass die neue Behauptung "wirklich" stimmt? Oder wird andersrum ein Schuh daraus: Weil wir mittlerweile ein fundamentales erkenntnistheoretisches Unbehagen haben und durch immer dichtere Informationsnebel waten, wollen wir nicht nur wissen, sondern "wirklich" wissen, was los ist. Alles bis zu diesem Text war eher Rumgemeine, hier nun endlich die Fakten.

Sokrates hat dieses erkenntnistheoretische Misstrauen ja sehr schön in seinen Dialogen herausgearbeitet, allerdings ex negativo. Bei ihm gab es nicht einfaches Wissen und "wirkliches" Besserwissen. Es gab erst Scheinwissen und dann höheres Nichtwissen in Form der Erkenntnis, dass man im Grunde keine Ahnung hat. Kurz vor seinem Tod hat er auf der Athener Agora deshalb auch eine Informationsbroschüre verteilt. Sie hieß: "Zehn Tipps, wie Sie wirklich wissen, dass Sie nichts wissen." Leider ist sie nicht überliefert. Dafür die immer noch sehr lesenswerte "Apologie". Darin steht, wie es damals vor Gericht wirklich war.

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Quelle:
SZ vom 15.01.2019
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