Süddeutsche Zeitung

Philosophie:Regeln für den Kurpark

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Gemeinsam mit der Plessner-Gesellschaft verleiht die Stadt Wiesbaden alle drei Jahre den Helmuth-Plessner-Preis. In diesem Jahr ging er an Peter Sloterdijk.

Von Volker Breidecker

Wie verletzlich die zivilisatorische Hülle ist, die den Menschen Schutz sein soll, musste der Philosoph und Soziologe Helmuth Plessner (1892-1985) aus nächster Nähe erfahren. Im großbürgerlich-wilhelminischen "Weltkurort" Wiesbaden, wo er vor 125 Jahren als Sohn eines Kurarztes geboren und inmitten eines Privatsanatoriums aufgewachsen war, gab es schon im April 1933 keinen Schutz mehr vor dem antisemitischen Mob. Nach einem SA-Überfall auf die väterliche Praxis wurde der getaufte Jude Fedor Plessner tot aufgefunden. Sein Sohn hatte seine Werke zur Erneuerung der philosophischen Anthropologie und seine soziologische Warnung vor übersteigertem Gemeinschaftskult während der Semesterferien am Küchentisch des Elternhauses verfasst. Aus seinem Kölner Lehramt vertrieben, ging Plessner über Istanbul ins holländische Exil.

Als Akt später Wiedergutmachung verleiht die Stadt Wiesbaden im Bund mit der Hellmut-Plessner-Gesellschaft seit 2014 alle drei Jahre den mit 20 000 Euro dotierten Helmuth-Plessner-Preis an Persönlichkeiten, die "im Sinne Plessners" wirken und sein Werk weiterdenken. Dass er nun an Peter Sloterdijk ging, hatte die Gesellschaft vor eine Zerreißprobe gestellt. Die Kritiker bewerteten die Ehrung als ein mit dem geistigen Erbe Plessners unvereinbares Einknicken vor biopolitischen Ordnungsvorstellungen und gentechnologischen Manipulationen der Menschennatur. Sloterdijks "Regeln für den Menschenpark" (1999) wurden solche Motive seinerzeit entweder unterstellt, oder er selbst ließ sie sich nicht ganz lustlos unterstellen.

Tempi passati für Sloterdijk, auch wenn bei der Preisverleihung ein Festredner - der Soziologe Joachim Fischer - nicht müde wurde, Plessner und den Preisträger als postumes Duo gegen Frankfurter Philosophen in Stellung zu bringen und die Wiesbadener Sache als "edlen Wettstreit mit dem Frankfurter Adorno-Preis" auszugeben. Auf das ihm - mit besseren Argumenten - auch vom Laudator, dem Soziologen Wolfgang Eßbach, nahegelegte Spiel der Abgrenzung gegenüber Horkheimer, Heidegger, Habermas, ließ Sloterdijk sich gar nicht erst ein und witzelte über die ihm unterstellte Affinität zu Plessner als in die Annalen eingehende "Wiesbadener Doppelhochzeit der Begriffe".

Anstelle einer artigen Dankrede wartete Sloterdijk dann mit einem Vortrag auf, der Plessners Philosophie am Sternenhimmel des abendländischen Denkens justierte. Von der Antike bis zu Plessners Antipoden Arnold Gehlen werde über den homo sapiens eine "Krankenakte" geführt - mit einem zerrissenen, unvollständigen, verlorenen "Mängelwesen" als Patienten, der nur durch einen "Wunderarzt von oben" oder mittels irdischer Kompensationsleistungen - halbwegs - zu kurieren sei.

Diesem "anthropathologischen Mängeldiskurs" habe Plessner mit seiner Denkfigur der "exzentrischen Stellung" die Zäsur gesetzt: Alle Mittel zur Heilung des Risses, der durch den Menschen geht, sind ihm selbst gegeben. Entgegen allen autoritären Lösungen von oben wie von unten stünde daher als Konsequenz von Plessners Denken "das Tor zu liberalen Lösungen" weit offen. Er selbst, schloss Sloterdijk, ziehe es allerdings vor, von Räumen zu sprechen, in denen der Mensch nicht einmal recht weiß, wo er mit seinen exzentrischen Überschüssen hin soll.

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SZ vom 06.09.2017
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