Süddeutsche Zeitung

Philosophie:Die einsame Stunde der letzten Instanz

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Vor fünfzig Jahren erschien das revolutionäre Buch "Das Kapital lesen" von Louis Althusser. Nun ist Althussers Versuch, den Marxismus strukturalistisch zu deuten, erstmals vollständig auf Deutsch erschienen.

Von Fritz Göttler

Er war der gefallene Engel der Pariser Intellektuellen der Sechzigerjahre, eine gequälte Existenz, wie aus der schwarzen Romantik - Louis Althusser (1918 bis 1990). Eine unglückliche Jugend, Kriegsgefangenschaft, danach Lehrtätigkeit an der École normale supérieure, Mitglied in der PCF, der kommunistischen Partei Frankreichs bis ans Lebensende, ihr die Treue haltend sogar nach Stalins Tod, mit Konsequenz, wenn nicht Starrsinn, auch dann noch, als die Maoisten den alten stalinistischen Kurs immer stärker infrage stellten, in den Jahren vor '68. Sein Leben lang hat er an Depressionen gelitten, mehrmals war er in Behandlung, und im November 1980 hat er in einem Anfall seine Frau Hélène erwürgt. Ein Prozess blieb ihm erspart, aber Althusser blieb in verschiedenen Anstalten bis zu seinem Tod 1990. Ein Schock für die intellektuelle Welt: Haben wir uns von einem Verrückten belehren lassen, verführen lassen?

Denn verführerisch waren und sind die beiden Bücher, die Althusser Mitte der Sechziger vor gelegt hat, "Pour Marx" und "Das Kapital lesen", in denen er ein Retour zu Marx, eine neue, genaue, stringente Marx-Lektüre vorgeschlagen hatte. Zurück zu Marx, der - was Althusser euphorisch feiert - einen neuen Kontinent des menschlichen Wissens entdeckt hatte, den der Geschichte, so wie einst Thales und die anderen Griechen den Kontinent der Mathematik, Galilei dann den Kontinent der Physik entdeckt hatten. Althusser will nun, in einer philosophischen Anstrengung - die immer auch eine politische ist - aus der Marx'schen Methode und Dialektik eine Wissenschaft machen.

Nach seinem Tod wurde ein Lebensbericht veröffentlicht, den Althusser in den Jahren nach dem Mord in der Anstalt geschrieben hatte, "L'avenir dure longtemps/Die Zukunft hat Zeit" - das härteste Bekenntnisbuch womöglich seit Rousseau. Althusser legt seine Ängste offen, jene Furcht vor allem, als Betrüger entlarvt zu werden. Zu wenig Kenntnisse in der Philosophiegeschichte, viel zu wenig Kenntnisse in den Schriften von Marx, selbst das "Kapital" hat er nie ganz gelesen. Aber keiner hat solche Ängste so faszinierend produktiv gemacht, seine Lücken und die Momente des Schweigens wie Althusser. Man kann aus der Gebrochenheit dieses Werks immer noch ungeheuer viel lernen.

"Pour Marx", eine Sammlung von Aufsätzen aus der ersten Hälfte der Sechziger, ist das leichtere der beiden Bücher, schon der Titel bezaubert durch seinen zärtlichen Enthusiasmus. "Das Kapital lesen", entstanden in Gemeinschaft mit Kollegen und Freunden, - ist entschieden schwerer, auch schwerfälliger, von einer Strenge, einem Fanatismus gar gezeichnet. Man muss sie beide zusammen lesen und kann das nun, wenn, fünfzig Jahre später, "Das Kapital lesen" in einer vollständigen Fassung auf Deutsch erschienen ist.

Die beiden Bücher dokumentieren die Vereinigung von Marxismus und Strukturalismus, Althusser wollte auch für den Marxismus das obsolet gewordene simple Kausalitätsprinzip erledigen - die alte Formel von den Produktionsverhältnissen, die das Denken bestimmten, die Basis-Überbau-Konstruktion. Die Gesellschaft bestand für ihn aus diversen ineinander verflochtenen Strukturen, von denen eine die anderen mehr oder weniger dominierte - für dieses Geflecht borgte er sich den Begriff der Überdeterminierung von der Psychoanalyse. Es gibt keine einseitige, monokausale Dialektik: "Die einsame Stunde der ,letzten Instanz' schlägt nie, weder im ersten noch im letzten Augenblick." Und die Geschichte ist ein "Theater ohne Autor", wir sind, bevor wir Zuschauer sein können, nolens volens Akteure darin. Sein Leben lang quälte Althusser sich damit ab, die Rolle der Intellektuellen, also seine eigene, im revolutionären Prozess zu ergründen.

Die Zukunft kann lang dauern . . . Im Jahr 1964 starb einer seiner besten Freunde, der Philosoph Jacques Martin, Selbstmord. Noch ein dunkler Engel, er hat in den Fünfzigern Hesses "Glasperlenspiel" übersetzt. Es war wohl eine verschworene Gemeinschaft damals, an der École, ein Denker-Orden. Und Louis Althusser war sein Magister Ludi.

L ouis Althusser, Étienne Balibar, Roger Establet, Pierre Macherey, Jacques Rancière: Das Kapital lesen. Vollständige und ergänzte Ausgabe mit Retraktionen zum Kapital. Hrsg. Frieder Otto Wolf, unter Mitwirkung von Alexis Petrioli. Aus dem Französischen von Frieder Otto Wolf und Eva Pfaffenberger. Verlag Westfälisches Dampfboot, Münster 2015. 764 Seiten, 49,90 Euro.

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SZ vom 23.09.2015
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