Süddeutsche Zeitung

Theater aus Lateinamerika:Klatsch und Tratschgeschichten

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Wer bestimmt, was wichtige Informationen sind? Das fragt die chilenische Regisseurin Manuela Infante in "Noise" in Bochum.

Von Cornelia Fiedler

Es war Polizeigewalt mit System: Gezielte Schüsse auf die Köpfe der Protestierenden und Tränengas abgefeuert aus kürzester Distanz fügten 352 Menschen in Santiago de Chile im Herbst 2019 schwerste Augenverletzungen zu. Bei Notoperationen fand die Augenärztin Carmen Torres mehr als 60 Kugeln scharfe Munition in den Schädelknochen der jungen, jetzt teils oder vollständig erblindeten Menschen, die gegen Preissteigerungen und für soziale Gerechtigkeit auf die Straße gegangen waren. Diese gezielten Übergriffe macht eine der wichtigsten Stimmen des zeitgenössischen lateinamerikanischen Theaters, die Autorin und Regisseurin Manuela Infante, zum Ausgangspunkt ihrer dunklen, irritierenden Text- und Soundperformance am Schauspiel Bochum: "Noise. Das Rauschen der Menge".

Das Solo, mitreißend gespielt und intoniert von Schauspielerin Gina Haller, ist politisch, aber weit davon entfernt, agitatorisches Polittheater zu sein. Es ist poetisch bis an die Kitschgrenze. Und es entwickelt eine eigene narrative Logik, die hegemonialen Diskursen und Erzählweisen vergnügt den Kampf ansagt.

Als einziger Mitspieler steht auf der mit neblig-trüben Folien verhängten, von drei Straßenlaternen schwach erleuchteten Bühne ein Mischpult mit drei Loop-Pedalen. Damit nimmt Haller, unterstützt von Sounddesigner Diego Noguera, selbst erzeugte Geräusche, Gesänge, Textpassagen und Schlagworte gleichberechtigt auf und wirft sie verfremdet zurück. Als Stimmengewirr. Als Musik. Als Klangteppich einer Nacht im Ausnahmezustand in Chile, im Libanon oder den USA. Als Dialog mit sich selbst.

Infante fragt, wer entscheidet, was relevante Information, was Klatsch ist?

Infantes Text gleicht einer Suchbewegung und ist darin nicht unanstrengend. Er springt von Schauplatz zu Schauplatz und Haller springt aus einer Rollen-Skizze in die nächste, von der affektierten Rettungshundebesitzerin im Flugzeug zu Touristinnen im Dschungel, zur erschütternden Diagnose beim Augenarzt, zum Demo-Hund und Maskottchen Negro Matapacos, zu den Lagerfeuern der Protestierenden von 2019, denen die Geschichte heute schon recht gibt. Vergangenen Sonntag hat in Chile erstmals der demokratisch gewählte Verfassungskonvent getagt. Die Abschaffung der Verfassung aus der Pinochet-Diktatur war eine ihrer zentralen Forderungen.

Besonders eingängig inszeniert Infante eine Art Stille-Post-Szene von Gerüchten, die eine zunehmend politische Dimension erhält: Erst berichtet Haller als Nachrichtensprecherin, zwei Vermisste seien in Chile tot aufgefunden worden. Sekunden später ist sie ein Kind, das die Meldung nachplappert, dann ein Teenager, dann eine alte Lady, und es passiert Seltsames. Die Information wird auf ihrem Weg ungenauer, scheint sich aber einer möglichen Wahrheit anzunähern. Die beiden könnten ermordet worden sein, um zu verhindern, dass ihre Fotos von Menschenrechtsverletzungen auf den Demos veröffentlicht werden.

Der eigenwilligen Form des Abends liegt eine grundsätzliche, theoretische Fragestellung zugrunde, wie immer Infantes Arbeiten. Ihr Stück "Estado Vegetal" zum Beispiel, mit dem sie 2019 den Stückemarkt des Berliner Theatertreffens und damit auch den Auftrag für "Noise" gewann, war ein Versuch, ähnlich verzweigt zu erzählen, wie Pflanzen wachsen, basierend auf philosophischen und neurologischen Ansätzen. Verhandelt wurde ein Unfall zwischen Baum und Motorradfahrer, die sich seither in einem ähnlich "vegetativen" Zustand befinden.

Auch die Bochumer Uraufführung fordert einen Perspektivwechsel. Infante sieht im Begriff "Noise", also "Lärm" oder "Rauschen", eine Kategorie zur Abwertung bestimmter Informationen. Sie ist mit dem Thema nicht nur für die Geschichte ihres Heimatlandes auf der Höhe der Zeit. Der Wirtschaftsnobelpreisträger Daniel Kahneman hat das Phänomen in den letzten zehn Jahren untersucht und gerade ein Buch dazu herausgebracht. Wer entscheidet, was in einer Gesellschaft als wichtig gilt - und was als unwichtig abgetan wird, als Lärm, als Rauschen, als Klatsch? Der hegemonialen Vorstellung von relevanter Information, wie sie sich in regierungsnaher Berichterstattung oder Geschichtsschreibung niederschlägt, setzt Infante das subversive Rauschen und Rumoren, das Gerücht als etwas Positives entgegen. Als quasi demokratischen Ausdruck einer dezentralen, vernetzten Menge. Zwar wirkt das Bild der per se menschenfreundlichen und klugen Masse, das "Noise" damit evoziert, spätestens am nächsten Morgen eher naiv und ist historisch betrachtet nicht haltbar. Für die anderthalb Stunden des in sich stimmigen, mäandernden Bühnenessays lässt man sich aber gern davon bezaubern.

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