Süddeutsche Zeitung

Patagonien:Die Waffen der Wildkatze

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Es kann sehr grau sein im Süden: William Henry Hudsons Bericht über die Zeit, die er Anfang der 1870er-Jahre auf den patagonischen Ebenen verbrachte.

Von Tobias Lehmkuhl

Man muss nicht Bruce Chatwin oder Paul Theroux heißen und auf der nördlichen Hälfte der Erdkugel zur Welt gekommen sein, um Patagonien als Sehnsuchtsland zu empfinden. Auch William Henry Hudson, 1841 in der Nähe von Buenos Aires geboren, zog es unwiderstehlich in den Süden des eigenen Landes, und so reiste er Anfang der 1870er Jahre, hundert Jahre vor den beiden Briten, zum Rio Negro, vor allem um Vögel zu beobachten. Da er sich aber, kaum angekommen, eine Kugel ins eigene Knie schoss, wurde aus dem ornithologischem Abenteuer nichts, stattdessen verbrachte Hudson seine "Müßigen Tage in Patagonien" damit, über die "Sehkraft bei Wilden" nachzusinnen, den Eigenschaften der Farbe Weiß oder der Frage, ob sich Gerüche erinnern lassen.

Zum Glück jedoch schaut er in seinem Jahr in Patagonien nicht nur an die Wand seiner Hütte, irgendwann sind auch wieder Ausflüge möglich, die Hudsons Sehnsucht stillen - nach der Weite eines Landes, das sich auf den ersten Blick äußerst abweisend präsentiert, grau und leer, einer Wüste gleich.

Doch es sind gerade die endlosen, unwirtlichen Ebenen, die Hudson so faszinieren und ihn in einen anderen Zustand versetzen, einen Zustand des Stillstands und der Wachsamkeit, wie er schreibt: "Die Veränderung bei mir war ebenso groß und wunderbar, als hätte ich meine Identität gegen die eines anderen Menschen oder eines Tiers eingetauscht; zu jener Zeit aber war ich außerstande, darüber erstaunt zu sein oder Spekulationen anzustellen; der Zustand schien mir eher vertraut als befremdlich, und obwohl er von einem starken Gefühl freudiger Erregung begleitet war, kannte ich es nicht - wusste ich nicht, dass etwas zwischen mich und meinen Verstand getreten war -, bis ich es verlor und zu meinem früheren Selbst zurückkehrte - zum Denken und dem alten schalen Dasein."

Der Rio Negro schwillt mythisch an, Hudsons Sprache fließt indes gemessen und beständig dahin

Man fragt sich, warum Hudson, dessen Eltern britischer Abstammung waren, nach seinem Jahr der Wachsamkeit Argentinien verließ und nach London zog, um dort jahrzehntelang in Armut zu hausen und Bücher zu schreiben, die kaum jemand las. Vielleicht, weil dieses schale Dasein auf Dauer das einzig mögliche scheint, um die animalischen Verzückungen der Jugend zu bewahren - eben, indem man darüber schreibt. Verfasst hat Hudson seine "Müßigen Tage" nämlich erst zwanzig Jahre nach seinem Aufenthalt in Patagonien.

Zwischen den engen Mauern der britischen Hauptstadt erzählt er vom Leben der Pioniere, von den wenigen, nur noch sporadisch vorbeireitenden Eingeborenen, vor allem lässt er die Ebenen ein ums andere Mal leuchtend auferstehen und den Rio Negro mythisch anschwellen. Auch seine Sprache - er schrieb auf Englisch - fließt beständig dahin, wenngleich auf eine gemessene, geradezu alt-kastilische Art.

Rainer G. Schmidt ist es vortrefflich gelungen, die Satzperioden in ein ebenso rhythmisch genaues wie bildlich präzises Deutsch zu bringen (so ist von der Wildkatze die Rede, die allein auf sich gestellt ist, und darum ihre natürlichen Anlagen stets "scharf und blank poliert" halten muss). Man braucht sich nicht unbedingt ins Knie zu schießen, um einen Vorwand zu haben, sich mit diesem Buch vor den Ofen zu setzen und vom fernen grauen Süden zu träumen.

William Henry Hudson: Müßige Tage in Patagonien. Übersetzt von Rainer G. Schmidt. Matthes und Seitz, Berlin 2019. 240 Seiten, 22 Euro.

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Quelle:
SZ vom 27.12.2019
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